Montag, 1. November 2010

lvz kultur vom 1.11.10: Mario Schröder, Peter Licht, Soneb El Masrar & Puppenvarieté

Wasser im Wein. Das Publikum jubelt Leipzigs neuem Ballettchef Mario Schröder zu, Peter Korfmacher bleibt betont freundlich und mischt in die Lobeshymnen auf dessen Einstand "Chaplin" diskret einige schwurbelige wenns und abers und "zugegeben". Korfmacher schwelgt, es werde "so virtuos gebaut, so berührend choreographiert, so poetisch getanzt, so gekonnt musikalisiert, dass...", ja, dass all dies "weit über das Leben Chaplins hinausweist". Und gibt gleichzeitig zu, dass es Rhythmusprobleme gibt, dass Synchronizität und Geschmeidigkeit zu wünschen übrig lassen, eine Akrobatik-Truppe sich angeberisch präsentiere und Fremdkörper bleibt, auch aus dem Graben soll es bisweilen klappern. All dies gebe sich mit Verlauf des eineinhalbstündigen Abends und offenbare schließlich ein "Theater aus Emotionen und Geschichten". Das reicht für sein Urteil, Schröder bringe mit seinem Erstling "dem Leipziger Ballett die Menschlichkeit zurück."
Hinter dieser glanzvollen, ein wenig hohlen Fassade seines Lobes legt Korfmacher aber erkennbar die künstlerische Latte höher. Schröder "führe das Ballett behutsam in eine neue Moderne, die, hält er das Niveau, perspektivisch (!) das Zeug hat, Publikum und Ambition auch auf dieser Seite des Augustusplatzes zu versöhnen." Endlich zwar ein "Schlussstrich unter das Tanzmuseum", aber etwas Substanz dürfe man schon noch erwarten.


Mareike Mikat inszenierte in der Skala ein neues Stück von Peter Licht, das Nina May leider nicht versteht. Die Bezeichnung Theaterstück wäre im Fall von "Das Abhandenkommen der Staaten" ohnehin übertrieben, "Text" wäre angemessener. Poetische Schnipsel, rätselhafte Allegorien, abgenutzte Symbole, unklare Form, wenig verspielt - wirklich überzeugt ist Nina May nicht. Doch ihr Resümee lautet: Eine sympathische und inspirierende Annäherung an die Einheit, die "jüngeren Generationen" mehr sagen dürfte als Sonntagsreden. Wow. Licht und Regisseurin Mikat schaffen "eine ironische Allegorie auf die untergehende DDR". In Ansätzen zumindest. Außerdem behagt May die Mischung aus "Ernst und Jux" nicht, zumal sich ihr die szenischen Rätsel nicht lösen wollen. Leider offenbart die lvz theaterredakteurin ihr Unverständnis deutlicher, als ihr gut tut, z.B. wenn sie betont, "der ungebrochene Optimismus der Personen stört, etwa wenn Zenzi Huber mit großen Augen und Kerze in der Hand vor einem Plakat der Montagsdemo steht und sich freut." Wirklich ungebrochen?

Die Deutsch-Marokkanerin Soneb El Masrar hat mit "Muslim Girls" ein Buch geschrieben, das sich wie eine "Gegendarstellung" zu Thilo Sarrazins polemischen Schmähungen lese, schreibt Nadine Hummel. Sie wolle darin zeigen, dass "muslimische Frauen die gleichen Gedanken, Ängste und Wünsche haben wie ihre 'deutsch-deutschen' Mitbürger auch", dass muslimische Frauen vielfältig seien, dass es "kaum Unterschiede zwischen dem Leben deutscher und türkischer Jugendlicher gebe", aber auch, dass muslimische Männer ihren schlechten Ruf zu Unrecht hätten. Es seien gerade "Mütter, Tanten oder Großmütter", die die jungen Mädchen "einer alten, vorislamischen Tradition opfern". Soneb El Masrar ist Herausgeberin der einzigen deutschen Frauenzeitschrift für Migrantinnen, "Gazelle".

Yüksel Yolcu hat am Berliner Grips-Theater die Uraufführung von Jörg Isermeyers "Ohne Moos nix los" inszeniert, Elke Vogel berichtet von der Premiere. Das Stück über Kinderarmut spiele geschickt mit Klischees und Vorurteilen, "und kommt so der tatsächlichen Lebensrealität der Jugendlichen heute sehr nahe." Sicherlich eine gewagte Folgerung. Dass Yolcu einen "Blick hinter die Posen" werfe, wie Vogel schreibt, ist zumindest sehr zu hoffen, dass die Hauptdarsteller "mit enormer Energie" spielen und "die Gefühlswelten der Kinder ganz scharf herausarbeiten, ohne sie dabei zu karikieren" hat die Kritikerin endgültig überzeugt. Nicht nur sie. Für November seien bereits alle Schulvorstellungen ausgebucht.

Ulrich Fischer hat den Auftakt der neuen Saison im Kölner Schauspielhaus gesehen. Das von Kritikern zum Theater des Jahres gewählte Schauspiel unter der Intendanz von Karin Beier hatte mit einem Werk von Elfriede Jelinek begonnen: "Das Werk. Im Bus. Ein Sturz". Die drei Teile seien von unterschiedlicher Qualität, allein der letzte Teil, der den Einsturz des Kölner Stadtarchivs zur Grundlage hat, als Farce inszeniert, "hätte gereicht für den Abend".

Eine etwas langweilige Show, "aber auf die angenehme, weil nostalgische Art", sah Steffen Georgi bei der Premiere des Puppenvarieté "Herzklopfen kostenlos" vom Theater der Jungen Welt auf der Kellerbühne des Café Telegraph. Marion Firlus' Inszenierung sei "mitunter zauberhaft , gern mal schrullig, immer liebevoll." Aber: "Eine Harmlosigkeit mit wenig doppeltem Boden und gänzlich ohne Biss". Erst im Applaus entstünde unerwartet ein "Bild der Unterschwelligkeiten", die diese Kunstform ebenso beinhalte, wenn "Nummerngirl" Paul Kuhn seine Travestie-Perücke lupfe - und ein kahler Schädel "mit blutrotem Lippenstift" zum Vorschein komme.

Einmal im Jahr, bei der Audio Invasion, häutet sich das Gewandhaus zum Club. 2500 zumeist junge Menschen hören ein Großes Concert, bevor sie auf den vielen verschiedenen Floors Clubathmosphäre erleben. Live-Bands (z.B. Die Sterne, WhoMadeWho) und DJs, u.a. André Galluzzi aus dem Berghain im Prenzlauer Berg, lassen das gesamte Gewandhaus zu einem einzigen großen Partyevent werden. Theresa Wiedemann lobt hingerissen, alle Beteiligten hätten gewonnen, "dem Gewandhaus ist mit bemerkenswertem Booking ein beachtlicher Marketing-Wurf gelungen."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen