Freitag, 24. März 2023

lvz kultur vom 23.3.23: Semperoper Dresden und Oper Leipzig. Titanen des Marketings unter sich

Wo Öffentlichkeitsarbeit und Intendanz aufeinandertreffen, balanciert man gerne hart am Scheidepunkt von Phrasendrescherei und der hohen Kunst des Marketings. Dergestalt balancierte der gestrige Artikel "Kunst zu den Debatten der Gegenwart" über den neuen Spielplan 2023/24 der Semperoper Dresden. Zehn Premieren sollen laut Intendant Peter Theiler einen Beitrag bilden zu den "Wertdebatten" der Gegenwart. Hart am Wind segelt man wohl in Sachsens Residenzstadt entlang der Themen LGBTIQ+, Rassismus, Postkolonialismus, Gendergerechtigkeit, kulturelle Aneignung, Antisemitismus, vielleicht sogar Ableismus, Klimanotstand, Intersektionalität oder was das intellektualisierende Portefeuille sonst noch hergibt, eben den "Wertdebatten der Gegenwart". Oder enthält diese Ankündigung nicht bereits die innere Verlogenheit, die der Kulturbranche, und besonders der städtisch/staatlichen, innewohnt, indem alles, was dort passiert, einem Marketinggedanken zu folgen hat? 

Doch welche Stücken/Premieren stehen denn nun für die Wertdebatten des 21. Jahrhunderts?  Es sind Turandot, Die Frau ohne Schatten, Die Jüdin von Toledo, Katja Kabanova, eine Schwanensee-Adaption und Der 35. Mai. Und natürlich weitere Ballettabende. Wow. Ein einem früher mal kulturell gebildeten Massenpublikum bekanntes "Erkennen Sie die Melodie".
Was wird nicht gezeigt? Moderne Stücke, neue Musik, unbekannte Titel, die unsere Zeit und unser heutiges Dasein spiegeln und in zeitgemäßen Formen wiederzugeben vermögen. Mir kommt das vor, als mache man aus Dresden oder Leipzig ein Quedlinburg des 21. Jahrhunderts, voller Fachwerkhäuschen mit Gärten vorne und hinten, innen selbstverständlich als Smarthouses und mit modernen Designermöbeln versehen. In einer solchen Stadt würde ich nicht wohnen wollen. In ein solches mutloses Theater werde ich nicht gehen wollen.

Doch so recht vervollständigt wird der gestrige erst vom heutigen Artikel "Nachhaltig verzaubern und verführen" von Peter Korfmacher, in dem er den Spielplan 2023/24 des Rivalen Oper Leipzig vorstellt. Hier ists der angesagte Trend zur "Nachhaltigkeit", der mittlerweile auch die Theater und Museen erreicht zu haben scheint und Aufmerksamkeit verspricht. Wirklich? Auch hier - wie in Dresden - vornehmlich solides Fachwerk aus dem Mittelalter im Angebot. Die Zauberflöte, Die Fledermaus, Der Rosenkavalier. Außerdem Mary, Queen of Scots als "klimaneutrale" Produktion, oder genauer, nach Intendant Tobias Wolff, der seiner Chefdramaturgin beim Pressegespräch im Stile authentischen good guy, bad guys widerspricht, als diese das Wort "Klimaneutralität" benutzt, und ehrlich relativiert, "Natürlich wird Mary nicht klimaneutral. Aber wir versuchen so wenig neues Material wie möglich zu benutzen". Pause. Lohnt es sich hier, überhaupt noch weiterzuschreiben? 

Klar doch, es gibt noch Lady Macbeth von Mzensk, zwei Kammeropern (nicht, weil man sie so geil findet, sondern weil eine neue Obermaschinerie und Arbeiten am Inspizientenpult Einschränkungen fordern) und selbstverständlich die üblichen drei Ballette; die Muko steuert ein schräges Musical und neben der Schwanenseeadaption weitere drei erfolgversprechende Produktionen bei. Damit zieht die Muko übrigens gleich mit dem Flagschiff am Augustusplatz.

Und damit zieht die Oper Leipzig auch gleich im Zweikampf der sächsischen Titanen, zahlenmäßig wie im Anspruch der Modernität. Was dem einen seine "Wertedebatten der Gegenwart" ist dem anderen die "Nachhaltigkeit". Im Marketing herrscht Unentschieden.

Einen Ticken ehrlicher allerdings ist die Oper Leipzig schon. Hier wird der Nachhaltigkeit, dem Recyclinggedanken tatsächlich gefrönt: Authentischer als mittels Recycling alter Titel statt immer neuem, kostenträchtig zu fördernden Materials kann die Oper nicht sein. 1:0 für Leipzig. Kein Widerspruch der Chefdramaturgin. Kein Widerspruch des Publikums. Kein Einspruch der Presse.  Danke, Peter Korfmacher.

Nachsatz: Das Headline-Zitat vom "verzaubern und verführen" wurde exklusiv frisch ins 21.Jahrhundert überführt (recycelt) von Kulturdezernentin Skadi Jennicke.