Samstag, 31. Juli 2010

lvz kultur vom 31.07.10: Kabarett und Ostseegedichte

thomas freitag, ein brontosaurus im gegenwärtigen politischen kabarett, ist vom 11.-14. august mit der produktion "nur das beste" zu gast bei den academixern in leipzig. mark daniel entlockte dem 60-jährigen eine vielzahl semiorigineller statements. politik sei eine von der wirtschaft gekaufte kaste, christian wulff, der mittelmäßige sparkassen-direktor, die schlechtere wahl gegenüber gauck und dessen eindrucksvoller vita, die bedeutung von politik würde entwertet, wenn die medien auf gleicher ebene meldungen über matthäus und seine fremdknutschende ehefrau sendeten. angeprangert werden heuchelei und doppelmoral bei politikern, mangel an intellektueller führung in diesem lande, während politikerrücktritte aus mangel an vorwärtskommen (roland koch) für ein fiasko stünden. last not least, politisches kabarett vertrüge sich nicht mit der mentalität von schenkelklopfern im publikum.
da hilft nur noch hubschraubereinsatz, schießt mir plötzlich ein refrain von foyer des arts in den sinn.
zumindest in punkto lachen unterscheidet sich der alternde kabarettist von seinen nachfolgern. die jugendgruppe der leipziger pfeffermühle entpuppte sich als versuchsweise nachfahren fritz teufels und betonten - ebenfalls in der lvz von heute -, dass sie politisches kabarett gerne mit comedy, stand-up und "einfach quatsch" verbänden. sie seien halt jung, entschuldigten sich die spaßguerilleros.

es ist sommer - und die ostsee steht abermals im zentrum kulturkritischer beiträge der lvz, diesmal von janina fleischer, die den von ron winkler zusannengestellten gedichtband mit ostseegedichten "die schönheit ein deutliches rauschen" vorstellt.
während die doppelausstellung "sachsen am meer" in gera und dresden (siehe lvz vom 26.07.) nicht zuletzt politische aspekte in der ostseerezeption der bildenden künstler aufzeigte, ist der gemeinsame nenner der gedichtanthologie, dass die ostsee für die menschen der östlichen bundesländer ein stück heimat darstelle und ansonsten eine metapher, zumal wenn "die poesie der verse die der natur überspüle" (janina fleischer). innerlichkeit gewinnt die oberhand (ingeborg bachmanns schöner vers "innen ist deine brust ein meer"wird zitiert), und die rezensentin kommt zu der erkenntnis , dass von den dichtern "kaum jemand allein am meer zu sein scheint." am ende steht: "staunen über die anziehungskraft einer landschaft" - und eine metapher für sehnsucht, freiheit und erinnerung: die ostsee.

Freitag, 30. Juli 2010

lvz kultur vom 30.07.10: Bouillères "Retro", Julia Gröning und Roland Frenzel

"verstörung" ist das stichwort, unter dem janina fleischer olivier bouillères roman "retro" gelesen hat. der französische autor beschreibt in einer melange aus autobiografischem und fiktionalem die geschichte eines kindesmissbrauchs in den späten 70ern. verstörend machten den roman nicht nur die schilderungen der vergewaltigungsszenen, sondern, dass bouilléres seine haupfigur, die wie er selbst olivier heißt, dies scheinbar freiwillig erleben lässt, stolz darauf, jüngster unter den jungen dieses kinderpornorings zu sein. "nur für erwachsene" schreibt der deutsche verlag matthes & seitz auf seiner internetseite zur deutschen ausgabe dieses romans, der in frankreich für einen skandal gesorgt hat. kunstvoll versucht der autor, im rahmen einer rückerinnerung an das damalige geschehen noch korrekturen für seine damals zehn jahre alte hauptfigur mitzudenken. aussichtslos. die verletzungen würden so oder so ins heute getragen, die persönlichkeit bleibe verloren.
auf andere weise verstörend wirkt die ausstellung "losigkeit" mit arbeiten von julia gröning auf dem leipziger spinnereigelände auf susann buhl. in den überwältigend exhibitionistischen fotos der künstlerin ist sie immer wieder selbst zu sehen, ausnahmslos fragmentarisch. die suche nach dem gesamtbild zieht die betrachterin magisch durch die gesamte ausstellung, doch dieses bild wird es nicht geben. sinnlich bereichert wird der besucher gleichwohl auf sich selbst verwiesen.
verstörend, beinahe ergreifend, scheint die ausstellung mit werken des leipziger malers roland frenzel in der leipziger galerie könitz auf meinhard michael gewirkt zu haben. für den in mehrfacher hinsicht außenseiter unter leipzigs malern scheinen die motive anfangs allein gelegenheiten für den intensiven, beinahe naiven gebrauch von farbe gewesen zu sein. seine zunehmende erkrankung, seine psychotischen schübe, haben frenzels strich immer skizzenhafter, fragmentarischer werden lassen, wohl aus zwangsläufig nachlassender konzentration. aus vormals leichtigkeit wird auflösung und unglück. tragisch erscheint michael dagegen, dass diese von frenzels psychotischer natur und einsamkeit geprägte flüchtigkeit und eingeschriebene hinfälligkeit die bilder ergreifender mache als alle poesie und unmittelbarkeit der frühen phase.
auf der szene leipzig-seite schreibt mathias wöbking über die inszenierung des traumquadrat-ensembles von melvilles "moby dick" im soziokulturellen zentrum "die villa". intelligent, witzig, zeitgemäß und erschütternd - und in keiner hinsicht mit pädagogisch motiviertem laienspiel zu bezeichnen sei die inszenierung des regisseurs marek s. bednarsky.
thomas düll schreibt über die global space odyssey, die morgen von connewitz nach lindenau zieht. der spektakuläre umzug, der auf das selbstbewusstsein, aber auch die gefährdung der vielfältigen subkultur verweist, will auf die notwendigkeit für freiräume bzw. "müßiggang" jenseits von dauernder verfügbarkeit und selbstvermarktung der szene hinweisen, nicht allein zur produktion, sondern als angebot für alle besucher der kulturellen veranstaltungen. allerdings auch: dass es die subkultur für seine nutzer nicht umsonst geben kann.

Donnerstag, 29. Juli 2010

lvz kultur vom 29.07.10: Riehms "Dionysos", Männer und Krumbiegel

da besteht die möglichkeit, die uraufführung einer oper eines der wenigen großen, lebenden opernkomponisten unserer zeit, und damit unsere zeit selbst zu beschreiben, und die lvz vertut diese chance. schade.
wolfgang riehms opernphantasie "dionysos" über den denker friedrich nietzsche, bei den salzburger festspielen uraufgeführt, wurde, so rainer wagner, vom publikum mit großem jubel gefeiert. der rezensent vermutet darin allerdings, dass "die ratlosen sich nicht als nichtdenker entblössen wollten" - und reiht sich umstandslos unter ihnen ein. riehm benutze nietzsches texte als "wortsteinbruch", sein stück sei "ein irrgarten", die inszenierung pierre audis "so sperrig wie sinnlich", meeses bühne voller "chiffren". leider lässt wagner den ariadnefaden, den riehm mitliefere, in seinem eigenen text vermissen. keiner seiner sätze lässt beim leser bilder oder zusammenhänge entstehen, riehms musik- und bedeutungskosmos wird an keiner stelle angedeutet, die inszenierung versuche gar, statt sie zu "straffen" die "geschichte zu ende zu erzählen". peinlich wird es, als wagner der inszenierung schließlich ankreidet, auf das stück keine "eigene sicht" zu entwickeln, und im gleichen satz seinen vorwitz wieder zurückzieht, denn das sei "bei einer uraufführung auch nicht nötig".
"männer", eine ausstellung im leipziger fotomuseum mölkau mit porträts der fotografin eva mahn, hätte kritiker bernd locker am liebsten mit einer endlosschleife des grönemeyer-songs gleichen titels zum "audio-visuellen kabinett" gestaltet. umso lieber zitiert der rezensent aus der heiter-ironischen männermystifikation des ruhrpottpoeten. hinter den fotos - selbstinszenierten herrschaftsposen erfolgreicher menschen aus mahns direktem lebensumfeld, vom sparkassendirektor bis zum psychologen - vermutet locker die gleiche grönemyersche ironie, "anders" könne man "sich dem subtilen thema gar nicht nähern, zumal als frau". doch in mahns fotoporträts scheint mehr zu entdecken sein, als männer gerne von sich preisgeben möchten. das in ihrer inszenierung scheinbar individuell verkörperte starke und souveräne männliche ego entpuppt sich, so kann man bernd locker auch verstehen, in der vielfalt vielmehr als soziale konstruktion eines "als kind schon auf mann geeichten" (grönemeyer) geschlechts. dass zudem nur auf einem einzigen bild auch gefühl zum ausdruck kommt, stimmt den kritkermann allerdings nachdenklich.
auf der szene leipzig-seite darf sebastian krumbiegel über sein persönlich-prägendes musikerlebnis schreiben. es ist "bohemian rhapsody" von queen, ohne die es - so kalauert krumbiegel - keine prinzen gegeben hätte. das schräge psychogramm eines jungen mannes, der gerade jemand erschossen habe, sei große oper und gleichzeitig eine unbesch und Krumbiegelreibliche reise durch verschiedene musikstile, die ihn erst zum musikstudium gebracht hätte, und auch noch in 100 jahren gehört würde.
in der szähne-glosse brilliert mathias wöbking mit der nachricht, das "künstlerkollektiv bp" habe den leipziger maler michael fischer-art engagiert, trotzdem der in der bp-kernkompetenz "öl-malerei in wasser" ein noch unbeschriebens blatt sei. hoffnung - insbesondere für die echtzeit-installation "deepwater horizon" - läge vielmehr in der selbstzerstörerischen kraft des fischer-art-oeuvres, das dieser schon vielfach, u.a. in seinem kunstprojekt am leipziger brühl, bewiesen habe.
warm anziehen darf sich die leipziger kultur, wenn man dem grünen-fraktionschef und vorsitzenden des kulturausschusses wolfram leuze in seinem gespräch mit ulrich milde zuhört. er möchte partout lieber nicht selbst sagen, wo künftig gelder im stadthaushalt eingespart werden sollten, sondern möchte der guten basisdemokratischen tradition folgen, die bevölkerung selbst darüber entscheiden zu lassen, wo sie sich amputieren möchte, d.h. welche kultureinrichtung eingespart werden könne. prost mahlzeit.

Dienstag, 27. Juli 2010

lvz kultur vom 28.07.10

das sommerloch dominiert heute die lvz kulturseiten. ronald meyer-arlt schreibt über peter steins schauspielstart der salzburger festspiele mit "ödipus auf kolonos", katrin börner über leonie swanns zweiten schaf-krimi "garou" und kulturchef peter korfmacher verfasste einen reisebericht über den kulinarischen elsass. zu interessieren vermag allein carola frentzens meldung über den selbstmord der österreichischen autorin brigitte schwaiger.
meyer-arlts premierenbericht der letzten sophokles-tragödie beginnt mit übersetzungsproblemen von griechischen klagelauten und endet bei "ovationen im stehen". die können sich stein und hauptdarsteller brandauer allerdings nur abholen, weil viele besucher beim letzten schlussapplaus bereits im gehen begriffen waren und höflich weiterklatschten. ansonsten fand meyer-arlt für die steinsche kasteiung den schönen begriff der "textausstellung", sinnierte über die nützlichkeit des einstreichens und über "oberseminare im seniorenstudium". warumwiesoweshalb die inszenierung so und nicht anders aussah, wurde im multiple choice-verfahren entweder als "marktlücke" oder "museum" offengelassen.
über die fortsetzung des schaf-krimi-bestsellers "glenkill" von leonie swann, den schaf-thriller "garou", weiß katrin börner zu berichten, dass die autorin zwecks einfühlung in die hauptrollen ein schäferpraktikum absolvierte, in ihrem thriller mittels kompliziert verwobener handlungsstränge eine welt "voll mytisch-mystischer düsternis" entwerfe, in der ein geheimnisvoller werwolf im wald und selbst selbst in deckengemälden lauere und dass die schafe zwar für die aufklärung des tierischen kriminalfalles sorgen, aber - schönes bonmot - die lösung selbst nicht mehr verstünden.
in peter korfmachers reisebericht über "die wunderbare ferienregion elsass" und speziell colmar, die "stadt des isenheimer altars im unterlinden-museum", vermag der autor gleichwohl weniger an das kreuz und die letzte ölung zu denken, als ausschließlich an kulinarisches, an wein, sauerkraut, gänseleber, flammkuchen und vladimir spivakovs internationales musikfestival. angesichts untadeliger russischer und französischer solisten befindet pk, dass "gegen die technische versiertheit russischer musiker nach wie vor kein (sauer-)kraut gewachsen" sei und dass man "mit all den akteuren" anschließend leicht ins gespräch komme, ob an der bar, im hotel und selbst auf der straße. es lebe das savoir vivre im gegensatz zur teutonischen gründelei.
brigitte schwaiger, bekanntgeworden durch ihren bestseller "wie kommt das salz ins meer", wurde ihr "nachgrübeln über mein unglückliches leben", über die sexuelle gewalt durch ihren vater, eine unglückliche ehe, psychische erkrankungen, tatsächlich zum verhängnis. "kaputt" sei sie darüber geworden, nach bereits mehreren selbstmordversuchen in den letzten jahren wurde sie am 26. juli tot in einem wiener seitenarm der donau gefunden.

lvz kultur vom 27.07.10

wie auch die meisten überregionalen zeitungen beschäftigt die lvz kultur, wie hans neuenfels' inszenierung von wagners "lohengrin" die 99. bayreuther festspielsaison einläutet. in einem liebevoll genauen premierenbericht gerät rainer wagner zuerst einmal ins schwärmen: über den jungen lettischen dirigenten andris nelsons und dessen traumschöne klangbilder. da bleibt sogar chefausstatter von der thannen das nachsehen. seine rattenkostüme (und manch trickfilmeinspielung auf der weißen bühne) seien zwar hingucker, aber auch beliebig deutbar. neuenfels ' inszenierung schafft ebenfalls manch poetische bilder, bleibe aber letztendlich brav. kein aufbruch in bayreuth, befindet wagner, immerhin musikalischer glanz.
während neuenfels also lieber ratten als behelmte krieger militaristisches liedgut schmettern lässt, redet sich laut dpa daniel barenboim als festredner zum auftakt der 90. salzburger festspiele in die vakante vertretung von johannes paul dem zweiten. nichts geringeres als den weltfrieden hat der dirigent und ewige mahner im sinn, wenn er israelis und palästinenser auffordert, "endlich aufeinander zuzugehen" oder wenn er deklamiert, "friede verlangt perfektion, nämlich die vollkommenheit von gerechtigkeit, strategie und mitgefühl". von wem verlangt er das eigentlich?
in der kunst, sich in abgründigen deutungen zu verheddern, erschöpft sich der bericht von susann buhl über die ausstellung "allegorie und versprechen" der künstlergruppe famed in der baumwollspinnerei. so wie etwa die veränderte eingangssituation der halle 14, statt, wie sonst, offen gehalten nun durch eine tür versperrt, gleich als versprechen, nach deren eintritt "intimstmögliche" Einblicke in die arbeit der gruppe, ja, sogar der "entstehung von kunst" höchstselbst beizuwohnen, gedeutet wird. und wenn dem betrachter zum schluss das wort "unsaid" als neon-handschrift entgegenleuchte, brenne uns förmlich "all ungesagter hintersinn der arbeiten - aber", mit geringem gibt sich frau buhl heute nicht ab, "vielleicht auch des lebens" ins bewusstsein. hoffentlich nur ein leeres versprechen.

Montag, 26. Juli 2010

lvz kultur vom 26.07.10

aufmacher auf den kulturseiten der lvz ist das 13. splash!-festival in ferropolis. obwohl markus wittpenn die veranstaltung in hohen tönen lobt, was besonders mit den auftritten von missy elliott und wu-tang clan zu tun hat, bedauert er, dass die großen zeiten des festivals längst vorbei zu sein scheinen. konkurrenz und geldmangel im osten seien der grund. beeindruckt hat ihn allerdings die "wall of death". jung, männlich & schlicht seien die zuschauer gewesen, die sich zur entsprechenden musik von olli banjo in zwei gruppen teilen und ineinanderrennen . was sich wie eine reminiszens an vergangene ritterschlachten mit kampflärm anhört, schien auch solche ausmaße anzunehmen. wittpenn befand: "ganz schön heftig".
paul kaiser schreibt über zwei ausstellungen in gera und dresden, mit (ostsee-)strandbildern von 1945 bis in die achziger jahre, beide unter dem titel "sachsen am meer". in brigitte reimanns diktum von der ankunft im alltag (1961), das die abkehr von motiven der arbeitswelt einläutete, findet er das stichwort, das das strand-sujet zur metapher einer zunehmend starrer werdenden gesellschaftlichen entwicklung werden lässt. spätestens mit arno rinks "strandbild" von 1980 habe sich der innere abschied aus der zur katastrophe geronnenen ddr-gesellschaft dokumentiert.
nachdem steffen georgi bereits die eröffnung des polnischen festivals czesc! im leipziger westflügel, dem zentrum für figurentheater in der lindenauer hähnelstraße, einigermaßen ratlos gelassen hat ("toporland" der "union des unmöglichen theaters"), vermisst er in der zweiten großen produktion des festivals, "passing away" der compony plastyczna kul, eine "gewisse nuance kühle", die das pathetisch-düstere sujet der rätselhaft-faszinierenden vanitas-darstellung der menschlichen existenz vor allzugroßer wehleidigkeit bewahrt hätte.