Samstag, 30. Oktober 2010

lvz kultur vom 30.10.10: Kulturraumgesetz, documenta 2012, Ezra Pound & Leila Josefowicz

Ein Rechtsgutachten im Auftrag von Oper Leipzig, Gewandhaus und Centraltheater und zum Preis von 10.000 € bestätigt dessen Auftraggebern deren Vorbehalte gegen die Rechtsstaatlichkeit der Novellierung des Kulturraumgesetztes Sachsen. In dem Gesetz, das am 15.12.2010 verabschiedet werden soll, geht es insbesondere um die Herauslösung der Landesbühnen Sachsen aus den Landesaufgaben, die fortan zur Hälfte aus den Geldern der acht Kulturräume bezahlt werden sollen. Es geht um mehr als 7 Mio € Mindereinnahmen, 2,5 Mio € beträfen die Stadt Leipzig. Karltheodor Hutter, Sprecher des sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur (SMWK) gibt sich nach außen gelassen und meinte, ein Jurist sei bereits zur gegenteiligen Einschätzung als der des renommierten Staats- und Kommunalrechtlers Ossenbühl gekommen. Dahinter steckt wohl Zweckoptimismus, denn im gleichen Atemzug geht Hutter davon aus, "dass im Zuge des parlamentarischen Verfahrens finanziell noch "deutlich" nachgebessert werde, wie Peter Korfmacher zu berichten weiß. Alles andere als eine substanzielle Aufstockung der Kulturraumgelder wäre im Falle einer Herauslösung der LBS aus den Landesaufgaben tatsächlich nicht nachvollziehbar. Kurzfristige Einsparungen in sechsstelliger oder gar Millionenhöhe bei den Leipziger Flaggschiffen der Hochkultur, die als Konsequenz bisher drohen, würden das Programm wie das Image der Institute deutlich und wohl unwiederruflich beschädigen. Gewandhausdirektor Schulz fragt, ob er denn Anfang kommenden Jahres einfach 30 Seiten aus dem dann bereits gedruckten Spielzeitheft 11/12 "herausreißen solle"?
Einer hat darauf definitiv keine Antwort: Kulturdezernent Michael Faber, der derzeit Urlaub in Paris macht. Wie Korfmacher weiß, ohne Handy.

Die 13. documenta 2012 in Kassel wird ohne übergreifendes Motto stattfinden. Die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev will die wichtigste deutsche Kunstschau stattdessen "an das digitale Zeitalter und ihre unzähligen Netzwerke anknüpfen". Sogar die Kunstausstellung selbst werde in Frage gestellt. In "Zeiten drahtloser Kommunikation könne sie als anachronistische Erfahrung des 20. Jahrhunderts empfunden werden". Christov-Bakargiev strebt eine Vernetzung der Kunst mit den Feldern von Migration und Quantenphysik an, es seien Projekte zu "Fragen zum Leben in modernen Gesellschaften" geplant. Berater für die Auswahl der ca. 100 einzuladenden Künstler seien u.a. ein Physiker, ein Schriftsteller, ein Immunologe und ein Denkmalpfleger.

Ulf Heise berichtet über den 125-jährigen Geburtstag des großen und politisch umstrittenen Lyrikers Ezra Pound. Der Amerikaner Pound galt als Anhänger Mussolinis und Hitlerverehrer, wurde von italienischen Partisanen gefangengenommen, an die amerikanische Soldaten übergeben und schließlich als unzurechnungsfähig in die Psychiatrie eingewiesen. Als "gefangenen Löwe" haben ihn Besucher empfunden. Er selbst habe später sein"spießbürgerliches Vorurteil des Antisemitismus" als seinen schlimmsten Fehler bezeichnet und arrangierte sich mit "seinem selbstverschuldeten Auf und Ab". Pound, der zu den genialsten Lyrikern der Moderne" zählt, sagte dazu knapp: "Schönheit ist schwierig."

Beim jüngsten Großen Concert, u.a. mit Werken des russischen Komponisten Sergej Prokofjew, war Jungstar und "schöne junge Frau" Leila Josefowicz als Soloviolinistin zu Gast im Gewandhaus. Charlotte Schrimpf sah am Ende des ersten Satzes des Violinkonzerts noch vielsagende irritierte Blicke im Zuschauerraum. "So scharf? So schneidend? Gehört (sich) das so?" Die gebürtige Kanadierin will die "feinen Flötenphrasen und immateriellen Tremoli" "aufschlitzen, zerfetzen". Dirigent George Pehlivanian lässt das Orchester gewähren, Josefowicz "verzieren", bis Solistin, Orchester und Publikum doch noch zu einem gemeinsamen Orgasmus finden: "Als schließlich ihr D in den Obertönen mit Streichern und Flöten verschmilzt, fehlt im Saal eigentlich nur das Seufzen".

Freitag, 29. Oktober 2010

lvz kultur vom 29.10.10: Grassi-Messe, Kultur Hamburg, Christa Wolf & Alain Platel,

Selbst das Bauhaus kannte die Grassi-Messe und stellte dort aus. Sie ist die älteste deutsche Museumsmesse Deutschlands, Kunsthandwerk von Mode, Geschirr bis zu Möbeln gibt es dort zu kaufen. Auf ihre alten Tage hat sie tatsächlich noch Kinder bekommen: Die Designers Open zum Beispiel.
Im Gespräch mit Juliane Streich sieht Eva-Maria Hoyer, Direktorin des Leipziger Grassi-Museums, den Bedarf an der Messe darin, dass "heutzutage doch alles gleich aussieht". Die Suche nach dem Individuellen und Schönen werde daher immer stärker. Eine Jury hat bereits "in enthusiastischem Kampf" vier Preisträger der Grassi Messe ausgewählt: Hiawatha Seiffert (Preis der Sparkasse), Beate Eismann (Total Leipzig-Preis), Sebastian Scheid (Preis Carl und Anneliese Goerdeler Stiftung) und Silke Spitzer (Preis der Galerie Slavek, Wien). Neben diesen vier stellen viele weitere Künstler auf der heute beginnenden Messe aus. Hoyer freut insbesondere, dass sich die Tradition der Messe verzweige, so sei die Designers Open eine Tochter, die selbstständig wurde, auch wenn sie nun parallel zur Grassi-Messe stattfinde. "Das wird ein wunderbares Design-Wochenende."

Es ist eine skurrile Form der Meinungsumfrage: Bei Katastrophenszenarios wenden Politiker gerne das Try-and-error-Prinzip an. Wo bei den angekündigten Einsparungen der größte Aufschrei, die größte Massenmobilisierung oder der größte Medienprotest erfolgt, da zieht man seine ursprünglichen Pläne zurück, reduziert sie auf die Hälfte oder setzt sie auf Wiedervorlage. So geschieht es derzeit in Hamburg. Kultursenator Stuth, berichtet Ulrike Cordes, will nun doch nicht das Altonaer Museum schließen, die Kürzungssumme von 3,4 Mio € werde erst 2014 fällig. Auch das Junge Schauspielhaus werde zunächst (!) nicht geschlossen. Die vom Hamburger Schauspielhaus geforderte Einsparsumme von 1,2 Mio € werde nun auf mehrere Jahre verteilt. Bürgermeister Ahlhaus wolle "angesichts der wochenlangen Proteste" einen "Imageschaden" von Hamburg fernhalten. Der Schaden, den eine Museums- oder Theaterlandschaft bei der Umsetzung der geäußerten Pläne unwiderruflich erfahren würde, und damit die Hamburger Bevölkerung, interessiert die CDU-Politiker offensichtlich weniger.

Janina Fleischer berichtet über eine Lesung (samt Gespräch) von Christa Wolf, die sie im Haus des Buches aus ihrem jüngsten Roman "Stadt der Engel" abhält. Fleischer läuft zu großer Form auf, Gedanken verwandeln sich bei ihr zu schönen und verblüffenden Sätzen. Die Zuhörer wollen "einer Schriftstellerin nah kommen, die sich selbst manchmal fremd war". Wolf, die in Los Angeles lebt, sei eine Emigrantin auf Zeit. Zu sehr habe ihre "schmale Akte", die sie als IM Margarete in Diensten der Stasi abgeliefert hatte, in der Öffentlichkeit die 42 Bände überwogen, die dieStasi über sie selbst sammelte, "wehren könne man sich schwer". So sei auch ihr Roman weder "Rechtfertigungsschrift noch Verdrängungsprosa", sondern ein Gewebe aus "Erfundenem, Erlebtem, Dokumentiertem". Wolf zitiert Freud: "Ohne Vergessen könne man nicht leben." Doch, so Fleischer, die Gegenwart lasse sich ohne die Möbel der Vergangenheit nur spärlich einrichten. Und "ohne Literatur, der von Christa Wolf zumal, lebten wir aus leeren Koffern."
So sehr sich Christa Wolf und ihre über 300 Zuhörer anhand der gemeinsamen (DDR-)Geschichte einer vergangenen Zeit vergewisserten, so sehr empfindet Alain Platel angesichts der großen Veränderungen, die es in den Neunziger Jahren im Stadtbild Leipzigs gegeben hat, eine große Melancholie, wie er Nina May anvertraut. Es seien Westimporte wie die riesigen Shopping-Center, die Platel dabei vor Augen hat. Seit 1996 ist Platel regelmäßiger Gast der euro-scene, "immer wieder glücklich, eingeladen zu werden", die wachsende "Nähe des Publikums" spüren zu können. Gerade Leipzig schätze er sehr, nicht zuletzt Johann Sebastian Bachs wegen. Manche seiner Ideen, so der Wettbewerb Bestes Tanz-Solo, das von der euro-scene aufgegriffen wurde, würden hier erheblich professioneller, aber im Gegenzug dafür viel weniger entspannt und komisch als in Gent stattfinden. Der ausgebildete Heilpädagoge, der zu den herausragenden Choreografen der Gegenwart gehört, habe sich erst spät getraut, seine Inspirations-Quellen, die sich auch aus Behinderungen und Krankheiten speisen, offen in die künstlerische Arbeit einfließen zu lassen. Eigentlich erst seit "vsprs" (2006) habe er keine Angst mehr, mit diesem "Material "zu arbeiten.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

lvz kultur vom 28.10.10: Geld im Überfluss, le Carré, Richards vs. Garrett & Thalia-Schließung

Es ist schon kurios: Im sächsischen Haushalt gibt es im Etat für die Freien Schulen nicht abgerufene Mittel aus 2009 in zig-Millionen € Höhe, die als Rücklagen für möglicherweise verloren gehende Prozesse in 2010 bereitstehen. In 2010 selbst werden zusätzlich zu diesen etwa 25 Mio € noch einmal über 40 Millionen € garnicht erst abgerufen werden, wie Sven Heitkamp schreibt. Ob auch sie als Rücklagen in den großen Topf fließen, aus dem später - wenig hinterfragt - zusätzliche Haushaltsgelder verteilt werden, wenn sie für die möglicherweise verloren gehende Prozesse nicht gebraucht werden? Fragt sich nur, in welche Bereiche?
Klar ist, dass der Kultur und Jugendbildung und -hilfe mit einem Bruchteil dieser Summen über die drängendsten Sorgen geholfen werden könnte. Es wird wieder einmal deutlich, dass genügend - auch flüssige - Gelder in den Haushalten existieren, Einsparbeschlüsse sind in allererster Linie politische Prioritätensetzungen.
Noch muss der gesamte Kulturbereich der Städte und Gemeinden Sachsens, z.B. wegen der Androhung, Kulturraumgelder zu kürzen, über Schließungen an allen Ecken und Enden debattieren. Mit dieser Taktik wird insbesondere die Öffentlichkeit in einen Zermürbungskrieg geschickt, durch den sie auf alles gefasst sein wird.

Der 79-jährige John le Carré hat aus Anlass seines neuen Romans "Verräter wie wir" mit Andrej Sokolow gesprochen. Der Roman setzt sich mit dem Einfluss der russischen Unterwelt im Westen auseinander. Le Carré hütet sich aber vor einer moralischen Verurteilung der Russen. Denn nicht nur seine Heimat Großbritannien, der gesamte Westen verfolge eine doppelbödige Moral, indem es einerseits nach außen Menschenrechte hochhält, riesige Summen für Sicherheitbehörden ausgibt und trotzdem Gelder aus Waffenschmuggel, Menschenhandel, Drogenhandel, Erpressungen etc. willig ins Land lässt.
Was die "großen Herausforderungen" der Zeit angehe, seien "wir" gescheitert. Das beträfe den Fluss schmutzigen Geldes ebenso wie die zu "Organisationen der Selbstbereicherung" gewandelten Banken, die Ökologie wie der beginnende Kampf um Ressourcen. Woran es fehle, sei eine "internationale Ethik", das aber vermutlich schon seit Beginn der Geschichte.
Auf seine großen Hoffnungen angesprochen, die er anlässlich der Wahl Barack Obamas hegte, meint le Carré, dass er seinen "Glauben" an Obama noch nicht verloren habe, allerdings an "die Fähigkeit Amerikas, sich selbst zu regieren", schon. "Die Kommunikationsmacht der rechten Lobby ist schlicht beängstigend."

Britta Gürke schreibt über die Autobiographie von Keith Richard, in der er mit mancher Legende aufräume, was Drogen und Musik beträfe, aber zumindest eine neue schaffte, wo es um Sex geht. Richards Liebesleben sei alles andere als wild gewesen, schreibt der nun seit 30 Jahren mit Patti Hansen liierte Rolling Stone. Wie heißt der Titel seines Werks: "Das ist mein Leben. Glaubt es oder nicht".

Ein ganz anderes Kaliber als Womanizer scheint Stargeiger David Garrett zu sein, glaubt man Birgit Hendrich. Ob schulpflichtig oder pensionsberechtigt - in der Arena Leipzig lagen dem Rock-Symphoniker bei seinem Auftaktkonzert zur neuen Tournee alle weiblichen Herzen zu Füßen. Im Unterschied zu Keith Richards sei er sogar Single, die Damenwelt darf also träumen. Zumal er mit "schüchternem Lächeln"und Anekdoten über Schoko- und Hanutaschnitten sich als "netter Junge von nebenan" darzustellen vermochte - nur halt mit einer Zauberfidel.

An die 150 Menschen sind in Lindenau einer Protestkundgebung des Theaters der Jungen Welt gegen die beabsichtigte Schließung des Thalia Theaters Halle gefolgt, darunter viele Vertreter von Hochkultur und Freier Szene sowie Politiker. Intendant Zielinskis Schlusswort, "man lasse sich in der Frage des Kampfes gegen Kulturkürzungen nicht spalten" fand entsprechend Widerhall. In Halle fanden sich zu einer zeitgleichen Kundgebung augenscheinlich nicht mehr Menschen ein als in Leipzig. Dafür kursierte ein Offener Brief des designierten Schauspielchefs Matthias Brenner, in dem er Annegret Hahn vorhielt, die Schließung sei "nicht so plötzlich gekommen, wie dargestellt". Das muss man mit größerem Recht allerdings der Theaterleitung selbst vorhalten. Rolf Stiska, der die scheinbare Alternative "Insolvenz oder Thalia-Schließung" nur wenige Tage vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung vom 8.10. gegenüber der Presse bekanntgab, musste das drohende Defizit spätestens seit 2009 auf sich zukommen gesehen haben. Und hat nichts unternommen.

Mittwoch, 27. Oktober 2010

lvz kultur vom 27.10.10: Seligmann, Irina Pauls & Wallraf Richartz

Rafael Seligmann will den Deutschen nicht wehtun. So klug er ist, so vernünftig ist er auch. Er weiß genau, Menschen, die Angst haben, sind sonst zu allem fähig. Die hysterische Kakophonie von moslemfeindlichen Eruptionen in einer deutschen Öffentlichkeit, die sonst mit Heftigkeiten eher hinterm Berg hält, bezeichnet der "Publizist, Schriftsteller und Journalist" Raphael Seligmann als Haufen von Scrabble-Steinchen, die in eine vernünftige Ordnung gebracht werden können (und müssen), statt dass man sie wütend vom Tisch fegt und das "Spiel" aufgibt.
Sarrazins "primitive sozialdarwinistische Erklärung" seiner eigenen "Schreckensformel" vom zunehmend idiotischen, sich selbst abschaffenden Deutschland, kommt einer vielleicht legasthenischen, vielleicht perfiden Aneinanderreihung einzelner herumliegender Buchstaben im großen Integrations-Scrabble gleich. Hier sei "Gelassenheit gefordert" gegenüber den Alphabetisierungsversuchen eines "geltungssüchtigen Provokateurs" wie Sarrazin.
Viel stärker als dessen medienverstärkte ausgebrochene Gedankenbrocken irritiert Seligmann die Reaktion der Angst vor der deutschen Angst habenden Politikerkaste. Klammheimlich lachen (und sich ärgern) musste Seligmann, als von ihnen die Schalmei der "christlich-jüdischen Tradition Deutschlands" gesungen wurde. Vernünftigerweise weist das intellektuelle Navigationssystem der deutschen Öffentlichkeit auf die Mühen der Ebene, die Arbeit an Bildung für die türkischstämmigen Deutschen, am Hobeln des ebenholzmäßigen Ressentiments der Mehrheit; schlicht, am Willen der Deutschen, gemeinsam mit anderen "Menschen" statt "Arbeitskräften" leben zu wollen.

Irina Pauls ist wütend. Worauf und auf wen, bleibt unklar. Wohl darauf, nicht in Berlin zu sein, "kein Umfeld, keine Community, keinen Austausch" zu haben in Leipzig, während das El Dorado so nah scheint. Ausgerechnet die beinahe autistische Choreografin, die zuletzt die künstlerische Leitung des Leipziger Tanztheaters innehatte, vermisst die Vernetzung, das Andocken von Tanzkünstlern an ihre Company, sagt sie Janina Fleischer. Jetzt trennt sich, was nie zusammengewachsen war: Die D.C. Dilligence, das Profiensemble am LTT, und die Arbeit des LTT mit "Kindern, Jugendlichen, Senioren, Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund". Pauls geht in die freie Arbeit im professionellen Tanzbereich zurück. Der Berliner Alessio Trevisano übernimmt die Leitung der Company des Leipziger Tanztheaters. Wie wenig die besessene Leipziger Choreografin einem Austausch jenseits des Profitanzes abgewinnen konnte, hat ihre leztze Choreografie gezeigt, die als Arbeit mit Senioren und Profis angekündigt wurde. Zu sehen war eine Art Apartheid unter den Tänzern, den Amateuren, Halbprofis und Profis. Vermischen durften sie sich erst im Applaus, als je ein Tänzer zwei Amateure an die Hand nehmen durfte, verkrampft, wie selten eine Choreografie zu sehen war.

Im Kölner Wallraf-Richartz-Museum sind Bilder alter Meister jeweils im Dialog mit Fotografien junger Meister zu sehen, Ulrich Traub berichtet über die Ausstellung "Auf Leben und Tod". In einer am zeitlichen Ablauf des Lebens orientierten Schau, die besonders das Menschenbild der Künstler deutlich machen will, zeigen sich interessante Unterschiede. Natürlich orientieren sich, reagieren die "Jungen" eher auf die "Alten", auf ihre Sujets, Formen, Themen (als umgekehrt;). Die Körperdarstellung der heutigen Zeit sei allerdings pessimistischer, lakonischer, extremer als die am Menschenbild und der Symbolik des Christentums orientierten Maler. Bei aller "formalen Nähe" zeige sich doch der "gewandelte Umgang mit Körper und Geschlecht" in der gegenwärtigen Fotografie. Insbesondere die Tätowierungen der Fotomodelle drücken eine Radikalisierung des Umgangs mit Körperlichkeit aus. Die Qualität der Fotografien, sie stammen aus der bislang kaum bekannten Bielefelder Sammlung Teutloff, sei übrigens groß. Die von Boucher, Tizian,Tintoretto, Bruyn und Ingres bekanntermaßen auch.

Dienstag, 26. Oktober 2010

lvz kultur vom 26.10.10: Lachmesse zum Letzten, Schlingensiefs 50. & Lanzmann

Ich war schon drauf und dran, Mark Daniel Abbitte zu leisten. Ist das Kabarett etwa doch nicht passé? Georg Schramm, von Daniel zu der "Kabarett-Instanz überhaupt" erhoben, stelle auf der Lachmesse seine Extraklasse unter Beweis, indem sich "in seine berüchtigte Schärfe Düsternis geschlichen hat, die zu einer vorempfundenen Wehmut passt". Dazu gehört dann ein abgedrucktes Schramm-Zitat über Banken als Verursacher der Wirtschaftskrise: "Wenn sich im Casino einer verzockt, erschießt er sich wenigstens ab und zu." Das ist weder düster, noch tragisch, das ist einfach ein Witz, wie man ihn rund um einen Fußballplatz regelmäßig zu hören bekommt, und den Schramm nun der feineren Gesellschaft im Theater vor den Latz knallt. Der Rest der abgedruckten 17 Lachmesse-Zitate sind ebenfalls, z.T. arg platte, Witze. Lachmesse als Witzmesse? Wenn nicht tatsächlich an zu vielen Ecken der Distinktionsgewinn hervorlugte. Am deutlichsten bei Bruno Jonas und dessen heiterer Publikumsbecircung: "Liebe Zuschauer, Sie lachen aus der seligen Distanz des unvollständigen Wissens!"
Bleibt noch Anarchist Leo Bassi, der beweise, dass Kabarett gefährlich und "hochpolitisch" sein könne. Das gelinge ihm, indem er dem Publikum seine eigene Verführbarkeit vor Augen halte. Dass der diesjährige "Geburtstagsjahrgang" der 20. Lachmesse als ein ganz besonderer "in Erinnerung bleibe", hat für Daniel mit den 15 Preisträgern zu tun. Darin Gleichstand mit der Dokfilmwoche, jedoch Vorteil Lachmesse, weil alle Preisträger bei ihrer Ehrung tatsächlich anwesend waren.

Die 2009 am Wiener Burgtheater herausgekommene ReadyMadeOper "Mea Culpa" von Christoph Schlingensief war zu Gast beim Hamburger Theaterfestival. Just an Schlingensiefs 50. Geburtstag, hätte er ihn noch erlebt. So wurde es eine Selbst-Feier der Nachwelt, voll öffentlicher Wehmut und Tränen (Burgtheater-Geschäftsführerin Silvia Stantejsky). Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit "seinem drohenden Tod" stünde die Frage nach "Heilung und Erlösung". Ulrike Cordes sah in der Aufführung vor allem "schnöden Sex und weitere kunstvolle Blödeleien", die jedoch den "existenziellen Ernst der Aufführung" selbstverständlich "nicht mindern" könnten. Na ja, vielleicht noch mal schnell im Hohelied oder bei Tabori nachlesen, wie Heiliges, profaner Sex und Erotik zusammenpasst? Schön ist Cordes' Schlusssatz, Zitat Joachim Meyerhoff, in einer Rolle, die Schlingensief selbst hätte darstellen wollen: "Ich will einfach noch nicht. Es ist einfach noch zu früh."

Spaßvogel Korfmacher darf heute eine Gershwin-CD-Kritik veröffentlichen und tut so, als sei das Ereignis das wahre Geburtstagsgeschenk für das 50-jährige Opernhaus. Es geht also um eine Chailly-Aufnahme, zwar bereits Anfang des Jahres mit dem Gewandhausorchester aufgenommen, aber was solls. Erscheint eher ungeplant in Deutschland, weil sie sich in Italien überraschenderweise über Wochen in den Pop-Charts gehalten hatte. Neben all den üblichen Gespreiztheiten ("Pianist Bollani gibt Gershwin den Groove zurück, indem er seine Melodien, Umspielungen, Akkorde, Rhythmen lasziv zwischen die Gerüststreben kantet, die Chailly und das Gewandhausorchester um ihn herum aufschichten.") Eindrucksvoll aber Korfmachers Plädoyer dafür, bei der Arbeit auch Spaß haben zu dürfen - in Deutschland ja immernoch ein Sakrileg. Mit Chailly und Jazz-Pianist Stefano Bollani ginge am Schluss sogar "der Schalk durch, wenn sie sich mit nachgerade (!) anarchischem Witz aus der Rialto-Ripples-Music-Hall in den Feierabend verabschieden." Die Einspielung jedenfalls wird bei Jazz- wie Klassikexperten als "Referenz" gelobt und sogar als "musikalisches Wunder" bezeichnet.

Eine beeindruckende Autobiografie stellt Steffen Georgi vor, Claude Lanzmanns "Der patagonische Hase". Die Gewalttätigkeit des Lebens und die Techniken des Mordens stehen bei Lanzmann neben der "Zärtlichkeit", mit der er "den Mut und die Kraft ehemaligen KZ-Insassen" schildert, die vor laufender Kamera "in die Hölle ihrer Erinnerungen hinabstiegen" und der Professionalität, Gespräche beim Kaffee mit ehemaligen SS-Schlächtern zu führen. Und dann ist da - natürlich - Israel. Und - nicht zuletzt - die existenzielle "Wiederinbesitznahme der Gewalt durch die Juden" (Lanzmann). Sein Hunger nach Leben, von dem der 85-jährige der "Abschied bevorsteht", werde "kraftvoll beschworen", nicht ohne einen Satz des befreundeten Philosophen Vladimir Jankélévitch zu zitieren: "Wer einmal gewesen ist, kann nicht mehr nicht gewesen sein; fortan ist die geheimnisvolle und zutiefst dunkle Tatsache, gelebt zu haben, seine Wegzehrung für die Ewigkeit." Bewunderung, aber auch Zweifel hege Lanzmann für diesen Satz, seine unstillbare Neugier gelte, so Georgi, vielleicht sogar der Ewigkeit.

Altenburgs Oberbürgermeister Michael Wolf befürchtet die Insolvenz des Theaters Gera-Altenburg, wenn die abzusehenden 1,8 Mio € Defizit nicht vom Land übernommen würden. Er habe, will er sich reinwaschen, von einem Passus im Haustarifvertrag nichts gewusst, wonach Steigerungen im Flächentarifvertrag zumindest teilweise berücksichtigt werden müssten. Nun hält er, laut Ellen Paul, Generalintendant Matthias Oldag vor, als Geschäftsführer das Controlling nicht mit der notwendigen Qualität durchgeführt zu haben. Das könne unter Umständen sogar zu Haftungsansprüchen gegenüber Oldag führen.

Montag, 25. Oktober 2010

lvz kultur vom 25.10.10: Dokfilmwoche, Lachmesse & Udo Lindenberg

Norbert Wehrstedt fühlt sich, wie so oft, im falschen Film, zumindest in einem anderen. Denn die Juries für die Preisverleihungen an die verschiedenen Dok- und Animationsfilme haben mal wieder alles ganz anders gesehen als er, ihre "Entscheidungen blieben natürlich mal wieder ein Buch mit sieben Siegeln", daher "klingen manche Begründungen nicht nur forsch, sondern auch fantastisch". Allerallermindestens aber habe es "einige Eierei" gegeben. Den Haupt-Preis im internationalen Wettbewerb, die Goldene Taube (10.000 €), hat zwar "Vodka Factory" von Jerzey Sladkowski (PL) erhalten; Norbert Wehrstedt deutete die zwei Preise an Tomas Kudmas "All That Glitter" (CZ), der den MDR-Preis (3000 €) und den Preis der Agentur für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz (8.000 €) erhalten hat, wegen ihrer 1000 € höheren Gesamtsumme allerdings zum "eigentlichen Gewinner" um. Den Preis im Milchmädchenrechnen hat Wehrstedt jedenfalls verdient.
Das eigentliche Ärgernis für den lvz Filmredakteur aber war die Abwesenheit vieler Preisträger: Nur fünfen der 15 konnte der Preis persönlich übergeben werden. Ärgerlicher zumindest als seine Überzeugung, einen vergleichsweise schwachen Jahrgang ("nicht mit Meisterstücken gespickt") gesehen zu haben. Gar nicht schwach war allerdings die Publikumsbeteiligung beim 53. Dokfilmfest. Die 30.000er Marke - und damit einen Besucherrekord - habe man sicher "geknackt", meinte Chef Claas Danielsen, Rekord bedeuteten auch 1421 Akkreditierungen.
Titel Thesen Temperamente hat übrigens einen außergewöhnlichen Film gesehen, den weder die Jury noch Norbert Wehrstedt in ihren Notizbüchern hatten: Martina Prießners "Wir sitzen im Süden" (D) über Deutsch-Türken in Istanbul, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Deutschland leben dürfen, und für die ein Callcenter für deutsche Unternehmen in der türkischen Metropole eine Art Heimatersatz geworden ist. "Wundervoll" (TTT).
Mathias Wöbking war dabei, als 7500 Fans der Band A-ha auf ihrer Abschiedstour zujubelten und sah einer Vollversammlung von 35- bis 45-Jährigen zu, die den "Soundtrack ihrer Kindheit und Jugend" feierte. Beim Finale des Konzert wusste er folglich nicht, ob die vor Heulkrämpfen "zusammenbrechenden" Zuschauerinnen "A-ha oder der eigenen Jugend hinterweinten".

Mark Daniel hat am Wochenende im Centraltheater den Höhepunkten der diesjährigen Lachmesse beigewohnt: Georg Schramm und Bruno Jonas. "Böser, schärfer, anspruchsvoller geht es nicht." Kabarett, dieser possierlich anzusehende Hahnenkampf eines ungefährlich gewordenen, gackernden Geistreichtums, ist ja eigentlich so passé wie der unangreifbare Universalgelehrte oder, z.B., der Chefmaskenbildner der trivialisierten Mittel- und Unterschichten, von der es sich so preiswert distanzieren lässt: Neo Rauch. Bei allem Lob - das insbesondere der "Portion Tragik" gewidmet ist, das Georg Schramm seinen Figuren verleihe - resümiert Daniel: "Besuche bei Jonas und Schramm sind für Bildungsbürger schicke Adressen, um sich zu vergewissern, dass ihre Schicht noch existiert." Gut gebrüllt, Löwe! Und wie lautet Daniels Schlusswort? "Bravo!"

Ballett und Breakdance treten in Heike Hennigs Tanztheater "Zeitsprünge", einer Fortsetzung von "Zeit tanzen seit 1927", in einen bewegenden Dialog. Ältere "Damen und Herren" des Balletts, allesamt Jahrgänge 27 bis 43, sollten im Kellertheater der Oper auf "junge Tänzer" treffen, doch von den vier Alten war leider nur einer anwesend. Dennoch: Für Benedikt Leßmann blieb "dieses Stück stets spontan und leichtfüßig. Tanztheaterkunst, die berührt."

In Peter Korfmachers diestägiger Glosse "ausgepresst" macht sich der lvz Kulturchef über die Verleihung des Jacob-Grimm-Preises für deutsche Sprache an Udo Lindenberg her. In akrobatisch anmutender Sarrazinnachfolge moniert kfm zwar nicht die Selbstabschaffung Deutschlands, aber zumindest die der deutschen Sprache, "die in verstörter Demut der eigenen Abdankung" hinterherschaue. Erst musste Jacob Grimm ungefragt eine schmerzhafte Roman-Behandlung durch Günter Grass erdulden, und nun das. Udo gewohnt cool: "Mit der deutschen Sprache kann man jonglieren wie mit einem Kaugummi."

Samstag, 23. Oktober 2010

lvz kultur vom 23.10.10: Brönner, Knef, Mittermaier & die Thomaner

Till Brönner hatte Mut, vielleicht deshalb, weil er nicht wissen konnte, wie weh das tut. Doch als der spätere Jazzpianist zum ersten Mal Charlie Parker hörte, war ihm klar: An der Musik kommst du nicht vorbei, ganz egal, ob du als Jazzfan etwas giltst. Vermutlich war es in den Augen der Mitschüler sogar weniger als nichts. Sich zum Jazzfan zu bekennen, hatte als Jugendlicher in den 80ern anscheinend die Qualität eines schwulen Outings. Und die Mädchen, an denen er Interesse hatte, "fanden das am Anfang erst mal nicht so dufte".
Till Brönners Gespräch, das er anlässlich des Erscheinens der Platte "All the End of the Day" mit Benjamin Weber führte, macht den Willen, einen Strich zu ziehen, deutlich. Das neue Album bewegt sich zwischen Pop und Jazz und genau um diese Neuentdeckung, oder besser, Neubewertung des Populären für sich selbst geht es Brönner. Er, der die 80er Jahre Musik, ob Bowie, Depeche Mode, U2, als "totaler Jazzfan" furchtbar fand, sieht heute darin musikalische Substanz, zeitlose Qualität. So sehr er auch einem Musiker huldigen mag, der selbst mit Charlie Parker zusammenspielte (Ray Brown), so sehr vermag Brönner die Zusammenarbeit mit den No Angels, Carla Bruni oder Hildegard Knef zu beeindrucken. Bei der Knef z.B., welche Bedeutung sie den Brüchen in der Musik beimaß. "Und wenn sich jemand mit Brüchen auskannte, dann war's Hildegard Knef".
Auf der Bühne der Arena Leipzig war mal wieder einer der Stars der Comedianszene: Michael Mittermeier. Er betrieb Mehrfachverwertung seines biografisch angehauchten Bestsellers "Achtung, Baby!", das er vor dem Hintergrund des "komödiantischen Potenzials seines eigenen Vaterglücks" geschrieben hatte. Viel mehr, als sich an einen Familien-Trend dranzuhängen, war bei seinem Auftritt nicht zu erkennen. Ob als schwangerer Mann, als Entdecker, dass Kinder auch Arschlöcher sein können, oder schließlich daran, dass hinter Frau Merkels Maske Helmut Kohl durchschimmere - "Das sind Witze, die ruhig mal gewechselt werden können", schreibt Hendrik Schäfer.

Der Reisejournalist Peter Korfmacher begleitet mental den Leipziger Thomanerchor nach Südamerika. Samt Bachorchester und Accentus Filmteam startet ein 88-köpfiges Team für gut 10 Tage nach Buenos Aires, Montevideo und anderswo. Der private Kontakt zum Tournee-Manager und dessen brasilianischer Frau habe die Gastspielreise finanziell erst möglich gemacht, natürlich auch die Unterstützung des Goethe-Instituts, die kaum weniger als sechsstellig sein konnte. Aufenthalte in einer deutschen Schule in Sao Paolo und auf einer Rinderfarm (am Reformationstag!) stellen die willkommene Ergänzung zu Johann Sebastians Bachs h-Moll-Messe dar. Mit nicht einmal süffigem Unterton zitiert Korfmacher den Geschäftsführer der Thomaner, Stefan Altner, zur Frage, wie die spezielle musikalische Vorliebe der Südamerikaner und auch die Einladung zustande gekommen sei: "Bei der Christianisierung der lateinamerikanischen Länder haben Musik und Theater eine entscheidende Rolle gespielt, das steckt wohl noch drin."

Im Gewandhaus gastierte derweil der singende Klavierkabarettist Bodo Wartke. Die 1400 Zuschauer haben am Ende den Sauerstoff in der Konzerthalle komplett rausgelacht. Ob Antonia Reiser, für die lvz vor Ort, ebenfalls gelacht hat, war nicht wirklich zu erkennen. Der scheinbar frauenfeindliche Grundton in den Witzen des Frauenfreunds muss sie mehr als nur einmal irritiert haben. Jedenfalls endet ihr Bericht mit der freundlichen Warnung: "Liebe, Mord und Totschlag - kaum einer singt darüber wortverspielter als Bodo Wartke. Hoffentlich passiert ihm nichts bei der Recherche...".

Meinhard Michael hat tatsächlich die D21 besucht. Im Lindenauer Kunstraum ist eine Ausstellung von Fabian Reimann zu sehen. Darin kombiniert er dreierlei: eine Videoinstallation, die Projektion eines Videos und eine "narrative Installation". Thema ist die Angst, die aus dem Meer kommt: Godzilla, Odysseus, Bay Watch und Moby Dick lassen grüßen. Falls es eine Botschaft in der Ausstellung gibt, könne sie darin bestehen, dass die "Natur des Menschen", dargestellt in der Gespaltenheit des antiken Menschen im Bild des einäugigen Zyklopen Polyphem und des faustisch geprägten Odysseus. Beides verbindet der HGB-Abgänger Reimann durch einen Monitor inmitten der Kriegsfalle der Griechen gegen Troia, dem hölzernen Pferd. Die Spezie Mensch als solche als Auslöser des Bösen.

Norbert Wehrstedt schreibt noch unter anderem über den Dokfilm "Geheimsache Ghettofilm" des Israeli Yael Hersonski, in dessen Produktion mit feinem Gespür für den Erfolg Katja Wildermuth für den mdr früh eingestiegen ist. In dem Film geht es um geschönte Aufnahmen des Lebens der Juden im Warschauer Ghetto, die lange Zeit für authentisch gehalten wurden, bis sie sich als perfide Inszenierung der Deutschen herausstellten.

Freitag, 22. Oktober 2010

lvz kultur vom 22.10.10: Müller-Westernhagen, Musikschule Leipzig, Thalia 21 & Dokfilme

Hallo? lvz redaktion? Alzheimer? Kurzzeitgedächtnis futsch? Der Artikel zu Marius Müller-Westerhagens Arena-Auftritt erscheint zum zweiten Mal auf der Kulturseite? Oder veröffentlicht die lvz solange, bis ich einen Artikel auch wirklich drannehme? Ich gebs zu, gestern war ich nicht so ganz da. Obwohl, wäre es nach ihm gegangen, hätte Jürgen Kleindienst den willenlosen MMW nach Ende des Konzerts am liebsten im Altersheim abgesetzt. aber er ist ja nicht der Pfleger, sondern nur der Redakteur und so dichtet er dem "dürrbeinigen 61-Jährigen" , dessen gepunktete Goldrandsonnenbrille und seidentuchdekorierter Hemdlatz mit der angenommenen Revoluzzer-Pose so viel zu tun hat wie Papst Benedikt mit den Menschen in Neu Delhis Armenviertel, eine Protestlerhaltung an, die punktgenau auf "Leute, die sich aufregen, wenn im Baumarkt die Akkuschrauber teurer werden" zielt (Bisschen lang der Satz).
Am Ende weiß Kleindienst nicht, wen er mehr bedauern soll, die Menschen im Saal mit phänomenalem Langzeitgedächtnis, die auch nach über 30 Jahren die nämlichen Songs mitträllern wollen, oder den "Johnny Walker" intonierenden Künstler mit "hochklassiger" Begleitband, der warten muss, bis seine Pflegekraft ihm den Asbach Uralt einschenkt.

Leicht bräsig wirkt wie gewohnt Musikschulleiter Frank Mitschke. Während um ihn herum "Leipzigs Kulturszene brennt", wie der Chef der Freiwilligen Feuerwehr Peter Korfmacher diagnostiziert, hat Mitschke den Schlaf der Gerechten gehalten. Es war schon seit dem Frühsommer klar, dass Dresden den Sächsischen Musikschulen den Hahn zudrehen will - von 5 Mio auf 3,5 Mio - aber das ist noch lange kein Grund, Hallo? zu rufen. Oder war sich Mitschke etwa von Anfang an sicher, dass dieses Vorhaben den Landtag nicht passieren wird? Die Klientel der Musikschülereltern wohnt schließlich warm und geborgen in den gleichen Villenvierteln wie die Mehrzahl der Abgeordneten. So ist es fast erstaunlich, dass die in Rufweite befindlichen Elternvertreter sogar Briefe an ihre Abgeordneten schreiben mussten, ehe diese einknickten. Schon ist die Rede davon, dass eher kosmetische Absenkungen in den Etats der Musikschulen erfolgen würden. Wenn überhaupt. Kein gutes Zeichen für die ländlichen Kulturstätten und keines für die Theaterszene in Leipzig und anderswo. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, Herr Tillich! Knecht Ruprecht wird den Knüppel schon noch aus dem Sack ziehen, glauben Sie nur...

Interessant in der derzeitigen Spardebatte ist tatsächlich, wie unterschiedlich die Theater- und Kulturchefs mit den drohenden Folterwerkzeugen umgehen. Herr Oldag in Gera-Altenburg steckt wie Halle mit einer geschätzten Million Euro in der Kreide. Dort werden als erste Tänzer des Balletts gehen, und der Leiter wird gegen eine willigere ausgetauscht. Die Geraer Ballett-Tage stehen ohnehin als erste zur Disposition. Es ist so deutsch. So feige. Als erstes die kleinste Sparte zurechtstutzen. In Halle ist es das Kinder- und Jugendtheater. Am "Fünfspartenhaus" Gera gibts das halt nicht. Da ist das fünfte Rad am Wagen das Ballett.

In Halle läuft sich der Widerstand langsam warm. Inszeniert wird er von Shootingstar Dirk Laucke. Der Titel ist schon geboren: Thalia 21. Jetzt braucht Frau Hahn nur noch auf einen Baum zu klettern, und schon wird es kein Wasserwerfer mehr wagen, die Theaterräume durchzukärchern, "nettoyer au kärcher" sagte 2007 der damalige Chef der Putzkolonne Paris 21 dazu, Nicholas Sarkozy. Ob dabei allerdings Lauckes Slogan von der "Re-Zonalisierung Halles" dienlich ist, bleibt abzuwarten. Immerhin ist die Petition des Theaters an die Kulturministerin Birgitta Wolff schon so erfolgreich, dass diese selbst sie bereits unterzeichnet hat. Das nennt man in der Politbranche sicher hart am Wind segeln, Frau Wolff? Landratten vermuten, dass sie den Gegner einfach ins Leere laufen lassen, nicht?

Trotz der im Protest zu Höchstform auflaufenden Kulturbetriebe taucht heute in der lvz tatsächlich sogar Kunst auf. Im Rahmen der Dokfilmwoche läuft der amerikanische Film "Germany Reunified - The Other Side of the Wall". Eine späte Reminiszens auf die Wende, ganz persönlich diesmal. Untypisch und dennoch ostalgisch geht es laut Antonia Rassow um ein DDR-amerikanisches Paar, das wenige Tage vor der Maueröffnung rübergeht, und zwar gleich über den Atlantik. Während sie, Gabriele, in der Folge ganz zufrieden ist, hadert er, Mark, allerdings mit dem Schicksal. Er wäre im Nachhinein doch gerne in der DDR geblieben. Schließlich konnte er jederzeit wieder ausreisen. Der Film, der zu gleichen Teilen aus West- wie Ostperspektive hätte gedreht werden sollen, ist unter der Hand zum Ostfilm geworden. Der Westen habe sich in den 20 Jahren einfach nicht verändert. Ganz so langweilig war der Osten also nicht.

Schließlich berichtet Norbert Wehrstedt noch über drei Filme des Dokfilmfestivals. Der erste, "Goodnight Nobody" von Jacqueline Zünd (CH), handelt von Schlaflosen. Ein Film "wie von Edward Hopper gemalt". Der zweite Film, "Vodka Factory" von Jerzy Sladkowski (PL), besitze nicht die ausgeprägte "Bildkultur" wie der von Zünd, beobachte "vielmehr das Leben wie es ist". Ein merkwürdiges Verständnis von Dokumentarfilmkunst. Ein draufhalten aufs Leben? Und der Zuschauer weiß nicht, "was nun inszeniert, was spontan hervor gebrochen" sei. "So ist Dokfilm eben heute", befindet Oberverallgemeinerer Wehrstedt. In der epischen Breite von "Dreaming Films" von Eric Pauwels (B) ist der Kritiker wohl vollends müde geworden. Seine Bemächtigungsstrategie hat trotzdem nicht gelitten, immerhin vermag er forsch zu formulieren, wie sich angesichts des Bildexerzitiums "der Zuschauer fühlt": "Wie die Spinne im Netz." Klingt bedrohlich.

Mittwoch, 20. Oktober 2010

lvz kultur vom 21.10.10: Retro, YouTube & Gewandhaus

Die Dokfilmwoche distanziert sich von ihrer eigenen Filmreihe. Paradox? Eher ein Beispiel alten Denkens. Die Taube will clean, das Gewissen der Dokfilmwoche sauber bleiben und schafft doch nur desinfizierte PR-Oberflächen. Retro nennt sich die Filmreihe "Regie und Regiment", in der 35 militärhistorische Filme von 1914 bis 1989 gezeigt werden - in Zusammenarbeit mit dem bundeswehreigenen Militärhistorischen Museum in Dresden. Das wiederum verstoße laut Claas Danielsen gegen den erklärten Pazifismus des Festivals. Doch Danielsen ist es damit egal, ob die gezeigten Filme über das Militär kritisch sind, auch ob das Museum selbst ungebrochen in militaristischer Tradition stehe. Was es nicht tut, etwa im architektonisch jegliche tradierte Form konterkarierenden Anbau von Daniel Libeskind. Am Ende ist es einfach die Bundeswehr als Institution, die konträr zum erklärten Pazifismus steht, mehr nicht. In seinem Bericht zitiert Norbert Wehrstedt Museumsleiter Jan Kindler, der Danielsens Argumente für "fernab jeglicher Realität" hält. Vielleicht will sich Danielsen ausgerechnet in dem Jahr, in dem das Festival einen weiteren großen Schritt zum Arrivierten geht, keine Blöße geben und schafft doch heilsame Diskussionen. Denn vielleicht wollen die Zuschauer, die den zur Schau gestellten Mystifikationen des Militärischen wohl kaum auf den Leim gehen, einfach die Analyse selbst anstellen und nicht der Festivalleitung überlassen. Misstrauen gegen Eigenverantwortlichkeit ist paternalistisch, ganz egal, ob sie nebenbei auch prinzipienfest ist.

Das Guggenheim Museum New York prämiert die besten 25 Videos auf YouTube. In der Jury sitzen Laurie Anderson, Darren Aronofsky, Douglas Gordon, Stefan Sagmeister und Takashi Murakami.

Der Klaviervirtuose Benyamin Nuss spielt am kommenden Samstag im Gewandhaus Musik des japanischen Komponisten von Videospielmusik Nobuo Uematsu. Der Star der Computerspielmusiker arrangiert Jazz, Popmusik, Schlager und Musik aus der japanischen Kultur. In einem Gespräch mit Burkhard Schäfer hält Nuss Uematsus Musik nicht nur für höchste lebensnahe Kunst. Er will sich auch grundsätzlich nicht vorschreiben lassen, ob er die für ihn existierende Schublade des klassischen Pianisten erweitert oder nicht. Nuss will sich weder einengen lassen noch abhängig sein. Er, der seit er zwölf war, selbst Computerspiele spielt, glaubt, dass die extremen Erscheinungen von Computerspielen da oder partielles Suchtverhalten mancher User das ganze Metier zu Unrecht in Verruf gebracht hätten.

Montag, 18. Oktober 2010

lvz kultur vom 18.10.10: Dokfilmwoche, Folkwang Museum & Doktor Mabuse

Claas Danielsen sieht im Gespräch mit Norbert Wehrstedt das Dokfilmfestival zwar gur finanziert, besonders die Stadt Leipzig erhöhte den Etat um 100.000 €. Andererseits braucht Danielsen mehr Geld, um das Festival wirklich zukunftstauglich zu machen: Web 2.0, Datenbank, zentrales Ticketsystem sind Problemfelder. Ansonsten fehlen ihm zwei Säle für je 300-400 Personen, weil die Kapazität an ihre Grenze kommt. Auch wären aus demselben Grund 1-2 Tage mehr gut. Bleiben aber vorerst ein Traum. In der Konkurrenz mit Amsterdam sieht man sich gewappnet, Leipzig sei familiärer, außerdem sei die Kombi mit den Animationsfilmen ein eindeutiges Alleinstellungsmerkmal. Obwohl gerade dort der Frust wächst. Jacqueline Zeitz, bisher Chefin dieser Sektion, geht, sieht keine Weiterentwicklung, keine Chance auf größeres Gewicht dieser Sparte. Im politischen Dokfilm sei allerdings eine wachsende stilistische Vielfalt zu bewundern, die sich wenig um alte Dogmen scheren. Alte Dogmen scheinen allerdings für Danielsen selbst eine Rolle zu spielen, die "Retro", das Festival über Militär im deutschen Dokfilm, steht seines Erachtens im Gegensatz zur pazifistischen Tradition der Friedenstaube im Dokfilmlabel, weil es vom Militärhistorischen Museum unterstützt wurde. Zwar seien viele militärkritische Filme zu sehen, aber die political correctness siegt. Alte Dogmen frisch aufpoliert?
Eines der faszinierenden Sonderprogramme auf der 53. Festival für Dokumentar- und Animationsfilme trägt das Thema Kaukasische Lektionen. Eine der derzeit gefährlichsten, aber auch vielschichtigsten gegenden der Erde mit ihren "Vielzahl von Ethnien, Kulturen und Religionen" und Menschen, die in mindestens 38 verschiedenen Sprachen sprechen, steht im Zentrum der Reihe, die lvz titelt mit "Seiltänzer, Dichter, Nomaden". Obwohl auch das Schicksal armenischer Bullen und das von tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen in Filmen im Mittelpunkt stehen.

Eine eindrucksvolle Schau von Bildern impressionistischer Maler und Fotografen steht im Mittelpunkt der Ausstellung "Bilder einer Metropole - Die Impressionisten in Paris", die im Rahmen des Programms der diesjährigen Kulturhauptstadt Ruhrgebiet im Folkwang Museum Essen gezeigt wird. Ulrich Traub meint, die Maler haben eindeutig stärker zur schwärmerischen Verklärung Paris' beigetragen. Die Dramatik der gravierenden Veränderungen in der industriellen Epoche des 19. Jahrhunderts abzubilden, wäre die dokumentarische Kunst der Fotografie erheblich besser geeignet.

Im Vergleich zum legendären Stummfilm von Fritz-Lang über den Verbrecher "Doktor Mabuse" kann die Inszenierung des Dessauer Intendanten André Bücker laut Nina May nicht wirklich mithalten. Obwohl das Spiel mit Masken und Wahrnehmung doch ein originäres Sujet für das Theater abgeben müsste. Das mit vielen Facetten aus der freudianischen Psychoanalyse versehene Thema zeigt die unheimliche kriminelle Zwischenwelt, "in der sich die Zuschauer nicht auf ihre Sinne verlassen können", im Anhaltinischen Theater in einem Vexierspiel von Spiegeln und Videoprojektionen durchaus eindrucksvoll . Allerdings beschreibt Nina May die Handschrift der Inszenierung doch als eher "krakelig". Das Dessauer Publikum feierte sie gleichwohl.

Samstag, 16. Oktober 2010

lvz kultur vom 16.10.10:Thalia Theater, Mario Barth, Franzen & Der blaue Engel

Hoffentlich wird das Verbot neonazistischer Demonstrationen in Leipzig kein Pyrrhussieg, der den vielen vielen Gegnern zwar ein gutes Gefühl, aber auch mehr als nur sportliche Rangeleien einhandeln wird, wenn frustrierte Polithooligans die Sau rauslassen.

Ein Meilenstein auf dem Weg zu noch mehr Rechtsradikalismus ist die beabsichtigte Schließung des Thalia Theaters Halle. In ihrem Interview mit Nina May redet Intendantin Annegret Hahn offen, ehrlich und durchaus emotional über die Situation ihrer Mitarbeiter wie über ihre ernst gemeinten Versuche, verkrustete Theaterstrukturen zu überwinden. Das einzige erkennbare Konzept der Geschäftsführung der Theater GmbH wie der politischen Spitze Halles ist es, ein unbequemes, um Inhalte statt um Repräsentation bemühtes Theater schließen zu wollen. Die Heuchelei von OBM Szabados wie von Geschäftsführer Stiska sind da nur zu durchsichtig. "Tatsachen schaffen", ohne erst Diskussionen zuzulassen. Vielleicht täuschen sie sich ja tatsächlich und die betroffene Bevölkerung - und das sind mehr, als es den Anschein hat - lassen sich das in ihrem eigenen Interesse nicht gefallen.
Auf die Frage, ob die erfolgte Fusion und beabsichtigte Schließung zu einer "Verwischung der Profile" der einzelnen Sparten führt, antwortet Annegret Hahn ganz klar: "Ja." Auch die Scheinalternative, mehr Kindertheater an den anderen Sparten (Schauspiel, Puppentheater, Oper) anzubieten, beantwortet sie deutlich mit "Mir stehen die Haare zu Berge" und "Unverfrorenheit". Das Schlimme ist, dass sie auf die folgenden Argumente und Beispiele, wie am Thalia Zielgruppenarbeit gemacht und (!) "andere Formen von Theaterarbeit" ausprobiert wurden, kaum je eine sachliche Antwort, sondern einsame administrative Entscheidungen ernten wird.
Zentral ist Hahns Haltung, dass das "Stadttheaterprinzip an sich zur Disposition steht". Vielleicht argumentiert sie aus anderer Position als Sebastian Hartmann, der in Leipzig zum nämlichen Befund gerade eine Operation ohne Narkose durchführt und vermutlich von der weiterhin dominanten bürgerlichen Schicht geschasst werden wird. Aber mit ähnlichem Background, ähnlicher Konsequenz und ähnlicher Verbohrtheit arbeitet, die mitunter an selbstherrliche Don Quichotterie erinnert. Und dennoch keinen echten Einwand gegen die verschiedenen Versuche, neue Wege zu gehen, darstellt.
In einem Kommentar benennt Nina May das Problem mit den Worten, "Kürzungsdebatten zeigen, dass die erkämpfte Wertschätzung von Kinder- und Jugendtheater in Zeiten der Krise schnell passé ist. Was absurd ist angesichts all der Debatten über frühkindliche Bildung oder Kulturmüdigkeit nachwachsender Generationen." All das darf keinen Freifahrtschein für das Genre bedeuten, aber die Verpflichtung, dessen Leistungen, die künstlerischen und gesamtgesellschaftlichen, zu registrieren und tatsächlich ernstzunehmen.

Ganz andere Probleme hat da Mario Barth. Wohin bloß mit all den Zuschauern? Jürgen Kleindienst rechnet schnell mal im Kopf zusammen und - kommt allein für 2010 bei den drei Shows von "Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch" in der Arena Leipzig auf eine Summe, die die Zuschauerzahl der gesamten Lachmesse 2010 übertreffen wird. Das formuliert Kleindienst mehr mit horrortrainiertem Schauder in der Stimme als positiv beeindruckt. Etwas selbstquälerisch befindet er jedoch, "Mario Barth ist die verdiente Rache für das Projekt der Emanzipation, die aus Männern Weicheier gemacht und Frauen Hosen angezogen hat." Ob der kulturelle Fortschritt von ohne Not tiefergelegten männlichen Hirnzellen, über sich selbst lachen zu können, wirklich aufwiegt, dass sie über anderes gar nicht mehr lachen können? Perfide und ebenfalls mit einem Hauch von Rache versehen, endet Kleindienst damit, Männern leuchtende Augen nachzusagen, wenn Barth den Flaschenöffner zum unverzichtbaren Gebrauchsgegenstand erklärt, während Frauen als solchen eher ihren Partner selbst sehen - und dies möglichst ohne allzu deutlichen Triumph in der Stimme.

Laut dpa kritisiert der Historiker Wolfgang Wippermann die neue Hitler-Ausstellung in Berlin. Er verstehe überhaupt nicht, warum man bei der Konzeption erkennbar so viel Angst vor einer möglichen Hitlerverehrung hatte, der sei tot und insofern ungefährlich. Stattdessen gehörten die Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere die der Rom, thematisiert und beachtet, ebenso wie heutige rechtsradikale Erscheinungen.
Norbert Wehrstedts Besprechung der Revue "Der blaue Engel" im Spiegelzelt auf dem Burgplatz gehört in die Rubrik "Die lvz präsentiert jeden Scheiß und jazzt ihn dementsprechend hoch". Folgerichtig spricht Wehrstedt lieber über Filme als über die Revue und begnügt sich mit der demaskierenden Sottise, "Anästhesistin Globisch aus der Sachsenklinik (In aller Freundschaft) tanzt, singt und verführt als fesche Lola im Spiegelzelt auf dem Leipziger Burgplatz." Den finden die amüsierwilligen Sachsen wenigstens im Schlaf.
Dass Jonathan Franzen im wiederbelebten Literarischen Herbst im Haus des Buches aus seinem neuen Roman "Freiheit" liest - sogar auf Deutsch! -, gehört sicher zu den bemerkenswerten Ereignissen in der Buchmessestadt. Theresa Wiedemann beschreibt die Lesung etwas zu hölzern vor lauter Ehrfurcht. Allerdings macht die lapidare wie schöne Bemerkung "Die Linie, die Grausamkeit eigentlich von Alltäglichem trennt, hebt Jonathan Franzen einfach auf" zumindest Lust auf das Buch.
"Die begeisternde Lachmesse-Eröffnung" mit dem Düsseldorfer Kommödchen, die Mark Daniel besuchte und bei der es im Anschluss keine Sushigelage sondern Bemmen gab, soll zumindest nicht nichterwähnt werden.

Freitag, 15. Oktober 2010

lvz kultur vom 15.10.10: Hitler und die Deutschen, Literarischer Herbst & Lachmesse

Maja Zehrt berichtet über die erste Ausstellung, die sich speziell "mit Hitler, seinem Leben und Wirken" beschäftigt. Unter dem Titel "Hitler und die Deutschen - Volksgemeinschaft und Verbrechen" hat sich das Deutsche Historische Museum in Berlin der Frage nach der "wirklich wahrsten Wahrheit über" Adolf Hitler genähert. Dass es eine "quasi-religiöse Beziehung" zwischen "Volk" und "Führer" gegeben habe, ziehe sich "wie ein roter Faden" durch diese Ausstellung. Eine Möglichkeit "zur Identifikation" wolle sie aber vermeiden. Aus der "großen Angst" davor entstünde, so Zehrt, "die Furcht der Kuratoren vor ihrer eigenen Courage". Auf der einen Seite wollen sie "Hitler als Mensch" zeigen, auf der anderen jeden Alltagsgegenstand möglichst so weit verfremden, dass eine emotionale Beziehung nicht in Frage kommen könne. Scheinbar die Quadratur des Kreises. Der Grundgedanke, um dem Dilemma halbwegs zu entgehen, scheint zu sein, alle Exponate in einen Bezug zum Ende des "Führer-Staats" zu setzen.

Kann die Ausstellung in ihrem "großen Ernst" überhaupt etwas von dieser Beziehung begreifbar machen und doch kritische Distanz wahren? Oder wird die Person Adolf Hitler durch diese Schau ohne es zu wollen doch wieder mystifiziert? Auf ein Podest gestellt? Interessant zu registrieren, dass in dem gesamten Artikel von Maja Zehrt der name Adolf Hitler niemals durch ein anderes Synonym ersetzt wird, als "der Führer". Wieviel Glorifizierung schimmert ungewollt daraus hervor? Er ist kein Diktator, kein Ver-Führer, nicht einmal ein Herrscher. Er ist scheinbar weiterhin der Führer, der die Volksgemeinschaft anführt. So, wie sich fast jeder Vierte in Deutschland heute "eine einzige starke Partei wünscht, die die Volksgemeinschaft verkörpere" und sich 13% wieder "einen Führer" zurückwünschen, der Deutschland "zum Wohle aller mit starker Hand regiert".
Folgt man dem Artikel von Maja Zehrt, wird in der Ausstellung nicht wirklich deutlich, warum es diese enge Beziehung Hitlers zur Bevölkerung gab. Allerdings, dass es sie gab - und für viele wohl heute noch gibt. Und wer darüber geschockt ist, hat wohl tatsächlich keine Ahnung. Zehrts Eingangssatz des Artikels zeigt das sehr schön. "Warum denn wieder eine Hitler-Ausstellung" habe sich Kurator Ulrich Thamer im Vorfeld öfter anhören müssen. Obwohl es doch die erste überhaupt sei, wie er rechtfertigend meint. Fühlen sich viele bei etwas ertappt? Wollen selbst von anderen nicht hinterfragt werden? Ein Thema, das sie heute noch umtreibt, nicht kritisch beleuchtet sehen?
Eine Haltung, die der ähnelt, wie sie viel zu viele Menschen heute gegenüber Rechtsextremismus oder auch der DDR-Vergangenheit einnehmen.

Ansonsten herrscht eher Ebbe im Kulturteil, obwohl doch gestern noch Mark Daniel in der Szähne den Eindruck des Gegenteils erwecken wollte. Ein etwas farbloser Bericht von der Lesung Katja Lange-Müllers beim Leipziger Literarischen Herbst, den Herbert Kästner vom veranstaltenden Leipziger Bibliophilen-Abend als "Wunder" bezeichnen möchte angesicht der gegenwärtigen Schließungsdebatten, nunja.
Die Ausstellung "Ereignis Druckgrafik" in der Galerie Vorort Ost scheint bei Christine Dorothea Hölzig mehr Fragen nach dem Sinn und Zweck ausgelöst zu haben, als Faszination über die ausgestellten Künstler und Werke. Die seien in der Mehrzahl ohne Spannung und besondere Ausstrahlung.
Über die geradezu zwanghafte und symbiotische Berichterstattung über die Lachmesse, heute von Jenifer Hochhaus über zwei Ausstellungen zu "20 Jahre Lachmese", lohnt es sich eher nicht, Worte zu verlieren. Bagatellen. Zeilenschinderei. Verlagspolitik.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

lvz kultur vom 14.10.10: Loriot und die Deutschen

An manchen Tagen sind die schönsten Lesefrüchte der lvz die dummen Gedanken und Abschweife, die sich ungefragt einstellen. Versacken irgendwo zwischen Seite 1 und dem Kulturteil. Gerade hat man noch wahrgenommen, dass OBM Burkhard Jung gemeinsam mit 15 anderen OBMs eine Neuordnung der Kommunalfinanzen und erweiterte Gewerbesteuern fordert, dass "Deutsche" sich zu 25% eine Partei wünschen, die die "deutsche Volksgemeinschaft" verkörpere, da singt die lvz kulturseite bereits ein Prosit auf die urdeutsche Gemütlichkeit. Der da in höchsten Tönen jubeliert, ist Christian Ruf, der über die jüngste Premiere an den Landesbühnen Sachsen, "Loriot á la carte" , ein Loblied trällert. Darin geht es um das Wesen der Deutschen. Ruf meint, wir, die Deutschen, seien - nicht der Papst, sondern - die Hoppenstedts, Loriots bekanntes, allzubekanntes Ehepaar.Wir, das von Selbstzweifeln und Humorlosigkeit geplagte Volk, wurden von Loriot, der "die Menschen liebt", auf eine Weise zum Lachen gebracht und ins Leben zurückgeholt, wie es vorher nur der Prinz mit Schneewittchen und Jesus mit dem toten Lazarus vollbracht hatten.
Christian Ruf öffnet uns die Augen fast schreckensweit, wenn er "die Deutschen", uns Möchtegernweltbürger von heute, in der "gediegenen Provinzialität, Pedanterie und Verklemmtheit" der Hoppenstedts erkennen könne. Und mal abgesehen von "Was der Streit von Frau und Herrn Hoppenstedt um einen Kosakenzipfel, das ist anderswo der Zoff um den Bau eines Bahnhofs oder einer Brücke." Ob Herr Ruf beim wilden Zappen durch die Fernsehprogramme schon mal Wasserwerfer mit Nudelresten oder so verwechselt? Wie dem auch sei, ganz ungefragt kommt einem hier der Gedanke, dass die vielen Kulturmillionen vielleicht nicht für derlei Theater, das "Loriots Figuren schlichtweg nachspielt", ausgegeben werden müsse.
Beinahe jeder weiß, dass Kultur für die Menschen eben mehr als "schön, aber nicht nötig" (Leipzigs Bürgermeister für Wirtschaft, Uwe Albrecht) ist. Trotzdem muss darüber nachgedacht werden, für welche Kultur das Geld der Kommunen genommen werden solle und für welches nicht. Und da sage ich hier: Für bereits die zweite Loriotpremiere an den Landesbühnen Sachsen nicht, so lustig und schön der Abend auch sein mag.
Es sollte gerade die Kultur für die Mehrheit, die Loriotabende, die Musicals wie Jekyll&Hyde an der Muko, die klassischen Schauspiele, die ihr Publikum blind ziehen, eben nicht mehr so subventioniert werden wie die Kunst und Kultur, die den Betrachter fordert, vielleicht sogar mitunter überfordert. Aber der es um eine Auseinandersetzung mit dem Hier und Heute, mit uns selbst, unserer oft komplizierten Existenz geht. Zuschüsse gehören den Bühnen, die moderne Autoren spielen, und sei es vor weniger Publikum. Dann spielen in den großen Häusern vielleicht mehr Tourneebühnen, mehr große Gesellschaften, die eine privatwirtschaftlichere Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen können, oben angesprochene Titel. Und die von öffentlichen Geldern lebenden Bühnen nur noch seltener in diesen großen Häusern.
Opernhäuser, die sich eben nicht "rechnen", sollten weiter von der öffentlichen Hand bezahlt werden, diesen Luxus darf man sich nicht beschneiden, aber eben auch hier verstärkt moderne Komponisten spielen. Die kaum nachwachsen, weil sie ohnehin nicht von ihrer Profession leben können. Die Top Twenty des Operngeschäfts kann sicher viel mehr quersubventioniert werden als die gewagtere, noch namenlose Komposition, die sichere Unterstützung braucht.
Natürlich sollte der Unterbau stimmen, kulturelle Bildung ausgebaut, Kinder- und Jugendtheater nicht geschlossen, sondern erheblich besser finanziert werden als heutzutage.
Und Museen, von denen der Leiter des von Schließung bedrohten Altonaer Museums Torkild Hinrichsen sagt, sie seien früher "heilig" gewesen, weil dort "die Vergangenheit aufbewahrt wurde", gehören wie Bibliotheken zu einer Gesellschaft, die sich ihres Hier und Jetzt tatsächlich im Rückgriff auf die Vergangenheit versichern will. Und nicht fälschlicherweise "Mut zu starkem Nationalgefühl" (für das sich 40% "der Deutschen" aussprechen) verwechselt mit einer blind gewordenen Gegenwart, die ohne Wissen und Kontakt zur eigenen Vergangenheit ist, und der eine um seine eigenen Wurzeln beschnitte Zukunft droht.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

lvz kultur vom 13.10.10: Lachmesse, Droste, Ai Weiwei & Birgit Brenner

Noch fünf Jahre bis zur Rente. Dennoch lebt Arnulf Eichhorn, Chef der Lachmesse, mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Er denkt an den Aufbruch im Kabarett, den es in den 90ern gegeben hat, mit größerer Freude als an das diesjährige Festival. In seinem entspannten Gespräch mit Mark Daniel, das aus Anlass des 20. Jubiläums stark retrospektive Züge trägt, kann sich Eichhorn tatsächlich daran hochziehen, dass jemand, der 1991 noch Straßenkünstler war, heute Säle füllt. Als ob das Kabarett ein Hobby wäre. Schade, dass es keine Skandale gegeben habe, meint Eichhorn, eigentlich überhaupt wenig Bemerkenswertes. Es herrsche das "gesunde Maß", mit dem wiederum problemlos die Spalten der lvz gefüllt werden können. In der ein Komiker wie Wiglaf Droste dann mit Nichtbeachtung gestraft wird, sei es, dass er im Centraltheater bei Paoli auftritt oder in Horns Erben den Altrocker der Neuen Frankfurter Schule, F. W. Bernstein, begleitet. Dieweil Leipzig weiterhin der Mittelstand fehlt, versinkt die lvz gemeinsam mit der Stadt Leipzig im Mittelmaß. Der geistige Frührentner Eichhorn versucht, das sogar zu rechtfertigen. Wenn "Martha Müller aus Markkleeberg" im Zuschauerraum säße, könne schließlich keine Politsatire mehr geboten werden, da habe halt harmloser Schabernack die Bühne erobert. Darauf, dass der nicht überbordet, müsse allerdings und wirklich geachtet werden. Die Komikkontrolleure der lvz stehen bereit, jawoll! Mark Daniels zarte Entgegnung, dass Martha Müller vielleicht doch unterschätzt würde, verlängert Eichhorns Lamento an diesem Tag nur bis in alle Ewigkeit, zumindest bis die Guillotine des Artikelschlusses herabsaust.

Für diejenigen, die bei Theater der Welt in Stuttgart (und übrigens auch bei den 15. Werkstatt-Tagen 2006 in Leipzig) die Birminghamer Installationskünstler Stan's Cafe mit ihrer 150 Mio Reiskörner bespielenden Performance erleben durften, macht sich Ai Weiweis Installation "Sunflower Seeds" von 100 Mio gebrannten und angemalten Porzellan-Sonnenblumenkernen in der Londoner Kunsthalle Tate Modern fast wie ein harmloses Plagiat aus. Zehn Zentimeter hoch bedecken sie den Boden der Turbinenhalle - und weisen auf das wichtigste Nahrungsmittel in China hin. Dafür, dass Sponsor Unilever noch vor zwei Jahren Kekse mit Melamin verseuchter Bbabymilch in China produziert hatte, reagierte der Nahrungsmulti verhältnismäßig schnell und effektiv, indem es dem Regimekriker Ai Weiwei (bekannt aus Film, Fernsehen und Documenta) den Auftrag für die Londoner Installation gab.

In der ausgepresst-Glosse beschäftigt sich Nina May mit fremden Kulturen, der dpa, Lena und dem Eurovision Song Contest. Warum die führende deutsche Nachrichtenagentur nicht eine Düsseldorfer Theaterpremiere über ein Nazimassaker anstatt der Wahl des Austragungsortes für das finale Lena-Revival mit einer Eilmeldung bedachten, will der lvz Kulturredakteurin einfach nicht in den Sinn. Humor? Rheinisches Fremdwort. Allein das Wort Kleinzschocher (haben sich laut May auch um die Austragung beworben;) birgt noch nicht für karnevaleske Umtriebe, zumal nach Udo Ulfkottes Listung des Leipziger Stadtteils als zukünftigen Terrorbrennpunkt, Stichwort "Atlas der Wut". Darauf, dass in der Seehofernachfolge dessen Forderung nach einem Veröffentlichungsstopp für ironiefreie Texte in Glossen aufgegriffen wird, wartet man in der lvz allerdings vergebens. Wie lange kann der verpflichtende Humorunterricht für integrationsunwillige Redakteure just zu Lachmessezeiten denn noch hinausgeschoben werden? Stirbt der Humornachwuchs der lvz gar aus, fragt sich der geängstigte Leser und wartet auf die nächste TED-Unfrage, bevor aus seinem Herzen gar eine Mörder-Grube wird. Fragen über Fragen. Vielleicht bietet die Szähne mal ein Schülerpraktikum an? Frau May, was sagen Sie?

Humor, das ist für Meinhard Michael ebenfalls keine Kategorie, die satisfaktionsfähig wäre. Dennoch birst sein Text über eine Installation von Birgit Brenner in der Galerie Eigen + Art regelrecht vor Pointen. Herrlich sein Intro, in dem "gerade ein schuldloses Reh von brutalem Schwarz in Wandhöhe überwältigt" wird. Später schießen schalenwildjagende Ehemänner sich einfach in die Luft und behaupten: "Ist nur ein Film." Schön auch seine Erkenntnis, dass, wo nicht einmal Sehnsucht mehr wachse, zwangsläufig Unfall und Mord gedeihe. Michaels Sehnsucht nach Unglück und Scheitern ist jedenfalls mit Händen zu greifen, wohingegen er selbst im äußersten Versagen noch die Latte hochlegen will: "Allerdings ist der müde Verlierer kein Gegner. Sein Scheitern ist zu schwach, als dass 'unlebbare Verhältnisse' schuldig gesprochen werden dürften." Dann also lieber "Samstag, Sonntag trink ich durch. Ich mag es gern geregelt." Das war übrigens ein Zitat von Birgit Brenner. Phänomenal die Frau. Wer die Ausstellung, z.B. auf dem letzten Spinnerei-Rundgang, erlebt hat, weiß um die Komik von deren "Antihelden". Und doch: "Die Zeit lief einfach weiter." Verdammt klug, die Frau Brenner. Und voller - tragischem - Witz.

Dienstag, 12. Oktober 2010

lvz kultur vom 12.10.10: In Love with Marilyn Monroe, On the Road with Jack Kerouac & Algorithmen von Jorinde Voigt

Den seichten Beginn macht ein Interview von Birgit Hendrich mit Stargeiger David Garrett. Doch der hat nicht mehr zu sagen, als was er ohnehin tut. Rockmusik und Klassik zu verbinden. Dass Klassik nicht "immer stocksteif" sei, der Musik, nicht den Musikern, "mit Respekt begegnet" werden solle, das "Niveau hoch" sein müsse, sind Platitüden, die ein erfolgreicher Musiker eben so absondert. Ach ja, außerdem fühle sich der stradivaribewaffnete Herr Garrett geschmeichelt, wenn man sein phantastisches Aussehen bemerke. Welche entwaffnende Ehrlichkeit. Respekt!
Etwas ähnlich Verstaubtes ist jüngst jenseits des Ozeans auf einem Dachboden aufgefunden worden, in Britta Schultejans Augen entpuppe sich der Fund allerdings als "kleine Sensation". Lee Strasbergs Witwe, Nachlassverwalterin von Marilyn Monroe, hat dort Gedichte des most sexiest woman dead or alive gefunden. Übrigens auch Kochrezepte, Einkaufslisten, Aphorismen und was der Nachwelt sonst noch aus dem Küchenschrank der Monroe erhalten bleiben sollte. Darunter die poetischen, vermutlich kongenial übersetzten Zeilen "Ich glaube, meine Liebe, wenn das das richtige Wort ist, war vor allem das herrlich berauschende Gefühl, begehrt, geliebt, und umhegt zu werden und etwaige sexuelle Anziehung." Übrigens war die Monroe damals noch Norma Jeane Baker und gerade mal 16, als sie das schrieb. Ein "Gänsehauterlebnis" verspricht dagegen der Fischer-Verlag, der mit diesem Buch zu einer literarischen Mosterei umsatteln möchte, indem er den letzten Rest Saft aus einem ausgewrungenen Bettlaken presst.
Und noch ein weiteres Kleinod der Literaturgeschichte ist ans Licht gehoben worden: Jack Kerouacs unredigiertes Manuskript seines Bestsellers "On the Road", in dem er weitgehend auf Satzzeichen verzichtete, Klarnamen nennt, und für das er eine zusammengeklebte DIN A4-Papierrolle in seine Schreibmaschine eingespannt hatte, um den kreativen Schreibfluss nicht durch unnötiges Ein- und Ausspannen des Papiers zu unterbrechen, wie Gisela Ostwald ehrfurchtsvoll konstatiert.
Außergewöhnlich scheint die Ausstellung von Zeichnungen Jorinde Voigts im Rosenkranz Kubus des Leipziger Bildermuseums zu sein, über die Meinhard Michael schreibt. In ihren Bildern verbindet die Zeichnerin technische und physikalische Daten mit Worten, Tönen, Küssen und verwandelt sie in Netze von Linien, die einen Rhythmus bekommen und - modernen Musik-Partituren ähnlich - Energie wie Eleganz, Kraft wie Zartheit ebenso ausdrücken wie die Spannung zwischen Logik und Gefühl. Der "herrliche Unfug" ersetze "Gottes Geheimnis" durch "strikte Algorithmen" und "ergänze sie übermütig mit Pop und Küssen", in "höheren Schichten leider viel zu kalt". Zu hoch, zu unverständlich meint Michael wohl. Nichtsdestotrotz hingerissen.
Auch die Connewitzer Cammerspiele machen es dem Publikum in ihrer jüngsten Produktion "Gog Magog Wars - Die Mythosmaschine" nicht eben einfach, wenn man Lars Schmidt glauben will. Regisseur Christian Hanisch demonstriert in seinem "bedrückendem Untergangsszenario", wie die Apokalypse in Gestalt der Völker der Gogs, Inkarnationen des Bösen, längst von der Gegenwart Besitz ergriffen habe und in der "hoffnungsfreien Eschatologie des Marktes" die Schöpfung zu verschlingen drohe. Die Aufführung habe das Publikum "aufgewühlt, aber ratlos" entlassen, so dass es auf dem Hof des Werk II heftig weiterdiskutierend den Abend fortsetzte.
Die Oper macht mobil, schreibt Antje Henselin-Rudolph. Künftig werde das Publikum jeden Montag ab 13 Uhr in der Kassenhalle mit einem 40-minütigen Programm unter dem Motto "Aktion Kunst" überrascht, an dem sich gestern nicht nur Intendant von Maravic, sondern demnächst auch Künstler des Gewandhauses und des Centraltheaters beteiligen werden. Mit dem Programm solle ein Zeichen gegen die Sparpläne gesetzt werden, die den drei Großen der Leipziger Hochkultur drohen.
Was eher nett und beinahe wie eine Angebotserweiterung klingt, ist für Torkild Hinrichsen, den Direktor des Altonaer Museums in Hamburg, das wie das Leipziger Naturkundemuseum geschlossen werden soll, der Beginn eines Widerstands. Im Interview mit Thomas Mayer rät er den Leipziger Bürgern: "Es klingt ein wenig martialisch, ist aber so: Öffentlich kämpfen. Nur mit massivem Druck wird der Erhalt zu sichern sein" und spricht in Zusammenhang mit einem Spendenaufruf für sein Museum von einer "Kriegskasse", mit deren Hilfe die Einrichtung noch gerettet werden solle.

Montag, 11. Oktober 2010

lvz kultur vom 11.10.10: 50 Jahre Opernhaus, Lichterfest, Precht, Grossman & Thalia Halle

20 Years After strahlt der 9. Oktober 1989 vor allem virtuell. Als Laserstrahl leuchtete das Datum am gestrigen nächtlichen Himmel und erlosch anschließend vor den Augen von 40.000 Menschen. Das riesige Auditorium nutzte OBM Jung für den Protest gegen die angekündigten NPD-Demonstationen am 16. Oktober.
Zeitgleich mit dem Marketing-Event Lichterfest feierte die Oper das 50-jährige Bestehen des Hauses am Opernplatz. Leider mit dem falschen Regisseur: Jochen Biganzoli. "Brav, farb- und hilflos" sei der überwiegende Teil des Ganzen, "selbstgefälliges Mittelmaß und behauptete Bedeutsamkeit" findet Peter Korfmacher. Dramaturgisch hänge die ganze Veranstaltung in der Luft. "Gemessen am Anspruch" sei das "Ergebnis ernüchternd". Bestenfalls.
In der Arena gastierten am 9. Oktober die Puhdys. Hendrik Schäfer entdeckte in ihrem Auftritt den "Glanz der Vergangenheit": "Eine Ode ans Gestern, ein Zeichen fürs Morgen." Vor ihnen spielte Renft seine neue CD. Angekündigt wurden sie als "irgendwie verboten und mysteriös". Sowas ist 20 Jahre nach 1989 irgendwie verbotene und mysteriöse Produktwerbung.
Richard David Precht hat ein neues Buch geschrieben: "DieKunst, kein Egoist zu sein". Precht kritisiert die gegenwärtige Ausrichtung auf das Materielle und dass der "soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft immer schlechter" werde. Interviewerin Karolin Köcher lockt den Wohlfühlphilosophen mehrere Mal mit direkten Fragen in die Enge. Ob Nasenspray mit dem Wohlfühlhormon Oxytocin gegen gierige Manager helfe, und ob Precht "komplizierte Themen zu populärwissenschaftlich" aufbereite? Precht konnte (?) oder wollte die Fragerin charmant beruhigen. Auf die letzte Frage, ob es ihn ärgere, gelegentlich als "Pop-Philosoph" bezeichnet zu werden, antwortete der Bestsellerautor: "Ich habe gar keine Ahnung von Pop. Ich höre fast gar keine Musik". Im Bürgerlichen Recht schützt Nichtwissen allerdings keinesfalls bei unrechtmäßigem Tun.
Der Abend des 9. Oktober ist derweil noch nicht erschöpft vor lauter stilisierter Selbstfeierei. Joachim Gauck feierte laut Janina Fleischer den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, David Grossman, als Mann, "dessen pure Existenz unserer ewigen Sorge, ob Leben gelingen kann", eine Antwort gebe: Ja. "Menschen können sich selbst noch angesichts von Willkür und Diktatur eine Bewegungsfreiheit erschaffen." 1989 hätte bewiesen, dass es "ein wahres Leben im falschen" gebe. Im übrigen, so Gauck mit Blick auf israelisch-palästinensische Prozesse, dürfe "Kritik nicht als Feindschaft ausgelegt werden."
In Gera inszenierte Anne Habermehl ihr eigenes Stück "Narbengelände". Ute Grundmann beschreibt den "gescheiten" Text als "leichtfüßig", von der Regisseurin in einem "kleinen, aber sehr feinen Theaterabend" mit "wunderbaren Schauspielern" und "beiläufiger Tragik" inszeniert. Wovon das Stück, ein "bitterer Ausflug ins alte Leben", handelt, wird leider nicht ganz deutlich. Das Stück spiele "vor und nach der Wende". Ein "Fluchtversuch", bei dem Marc erschossen werde, spielt ebenfalls eine Rolle. Es handele von "Menschen und ihren Verletzungen, über das, was sie aus dem bisherigen Leben mitnehmen in ein anderes, neues."
Erstmals äußert sich die korrekt wohl "ehemalige" Intendantin des Thalia Theaters Halle, Annegret Hahn, über die bevorstehenden Einsparpläne gegen ihr Theater. Resigniert befindet sie, dass "diese Arbeit nicht gebraucht wird, und unsere Angebote austauschbar sind". Was natürlich nicht stimmt. Denn das Thalia Theater hat stets für außergewöhnliche und vielfältige Angebote und produktive Unruhe ("Ultras") gesorgt. Aber warum äußert sie sich nicht früher? Und deutlicher?
Immerhin wird in unmittelbarer Nachbarschaft dieser Meldung ein positives Resümee der 17. Werkstatt-Tage am Theater der Jungen Welt gezogen. Der "erstmals unternommene Austausch aller regionalen Gruppierungen des Dachverbands ASSITEJ habe gezeigt, wie notwendig - angesichts im Raum stehender möglicher Schließungen des Jungen Schauspielhauses Hamburg und des Thalia Theaters Halle - eine länderübergreifende Kommunikation" der Theater sei.
Nach langen Verzögerungen ist am Samstag, 9.10., das Neue Schauspiel Leipzig mit der "Revue im Niemandsland" in der Lütznerstraße in Lindenau eröffnet worden. In seiner Eröffnungsrede sprach Kabarettist Mathias Tretter u.a. davon, dass "das NPD-Büro" in der Odermannstraße nun außer von "Theater der Jungen Welt, LOFFT, Musikalischer Komödie und all den Galerien" auch von einem weiteren "weltoffenen Nachbarn" umzingelt sei.

Samstag, 9. Oktober 2010

lvz kultur vom 09.10.10: Jedermann, Blomstedt & Thalia Halle

Wie hält man die Debatte über das Centraltheater am Köcheln? Indem Nina May die Inszenierungen, heute Jürgen Kruses "Jedermann", heftig lobt ("zunehmend packender Rausch"), während die lvz Zuschauer, (Kultur-)Politiker und Gastschreiber gezielt auf Hartmanns Untergang aus schreiben lässt. Nina May wird nicht sehr oft ernst genommen, das verleiht voreingenommenen Schreibern wie Martin Eich umso größere Durchschlagskraft. Schaden können Hartmann aber besonders die ehemaligen Schauspieler, Regisseure und vor allem er sich selbst als einsamer Potentat.
Doch Nina May soll zu Wort kommen. "Mit langem Applaus" ende der Krusesche "Jedermann", Manuel Harder sei "das Beste am Abend", wegen seiner "dämonischen Aura" gar die Idealbesetzung des Jedermann. Hat Harder sie? Kann er was dafür? Ist sie sogar sein Verdienst? Nichts genaues weiß man nicht. "Ironisch" sei die Inszenierung, insbesondere Kruses "Witz", nur die Anspielungen auf Tagesaktualitäten eher "rührend", jedenfalls dann, wenn sie nicht gar zu durchsichtigem Kalkül gehorchten á la "Wir müssen auch mal was zum ... sagen". Aller "düsterer Atmo" mit Witz zum Trotz, May entdeckt statt Kruse "Pollesch-Imitate". Möchte sie mehr von Rosalind Baffoe sehen? Von ihrer "imposanten Erscheinung"? Ihren "Modelschritten"? Oder bleibt die zurecht "sehr im Hintergrund"? Nina May sieht etwas, freut sich dran, aber wertet nicht, bezieht nicht mal deutlich Stellung. Nur dass Hofmannsthals Verse "unfreiwillig aufgesagt" seien, findet sie nicht so gut. Ansonsten hat sie Spaß an der "Party", der "Jahrmarktsposse" als Mysterienspiel, dem (Gothic-)Schauer-Drama mit "Tänzchen und Singspielchen". Schade nur, dass die Schauspieler unentwegt "saufen und rauchen" müssen. Der Jedermann - Hartmanns Goldener Schuss?
Peter Korfmacher haut mal wieder in dreißig Minuten eine Musikkritik in die Tasten. Unnachahmlich vermag er in Blomstedts Version von Bruckners Vierter herauszuhören, dass "die Tutti-Ballungen subtil ausbalanciert und die gewaltigen Steigerungen auch formal in Bezug zueinander" stünden. Ja, alles ist gut. Blomstedt lädt "die Herrlichkeiten von Bruckners Partitur" mit "Wahrheit" und "Bedeutung" auf. "Besser" gehts "kaum", sogar das Blech "rechts" ist "markanter", "links verlässlicher". Als? Umgekehrt? Das Publikum jubelt, laut Korfmacher schwebt zwar über allem Blomstedt-Genialischen "eine Ahnung von Gefährdung", doch schreibt sich Korfmacher lieber in einen Hölderlinschen Rausch. Denn wo der Gefahr sieht, wächst das Rettende bekanntlich auch.
Zu einer regelrecht erpresserischen Formulierung hat sich der Aufsichtsrat der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle aufgeschwungen. Das Thalia Theater Halle solle geschlossen werden, sofern der Abschluss von Haustarifverträgen scheitert. Und die Gefahr ist durchaus groß, die Vertretungen der Kollektive wie Ballett oder Chor neigen nicht zu freiwilligen Einschränkungen, solange nicht ihre eigenen Stellen gefährdet scheinen. Das Orchester hat bereits ganz separat einen abgeschlossen. Solidarität im 5-Sparten-Haus? Nicht einfach. Bei der Reise nach Jerusalem wird das Thalia Theater womöglich die schlechtesten Karten haben. Selbst Halles OBM Szabados spricht mit gespaltener Zunge, wenn sie bekennt, ein "Haustarifvertrag" habe absoluten Vorrang vor einer Thalia-Schließung. Wieso bei Abschluss des GmbH-Vertrages eigentlich das drohende strukturelle Defizit nicht längst erkannt und thematisiert wurde, wissen wohl nur Herr Stiska und Konsorten, die sonst nichts zu verlieren haben. Außer einer unbequemen (und ungeschickten) Annegret Hahn und der einer musiktheaterverliebten Leitung nur wenig Prestige bringenden Sparte. Dass die Geschäftsführerin des Dachverbands der Kinder- und Jugendtheatertheater Deutschlands, Meike Fechner, bisher als einzige den drohenden Verlust beklagt, stellt für Halle und sein Theater ein krasses Armutszeugnis dar. Leipzigs OBM Jung hat übrigens in vergleichbarer Situation genau gegenteilig reagiert, als er dem Theater der Jungen Welt die Garantie gab, bei demnächst drohenden Sparrunden ungeschoren zu bleiben - im Gegensatz zu Oper, Gewandhaus und Centraltheater.

Freitag, 8. Oktober 2010

lvz kultur vom 08.10.10:Streiflicht in der lvz, 50 Jahre Opernhaus & Biganzolis Meistersinger

Was für ein Glück. Dachte schon, die lvz schwächelt, als gestern bis weit nach Mitternacht keine Zeitung online ging. Ob die Buchmesse alle besoffen macht? Der Literatur-Nobelpreis? Die Vorfeiern zum 50. Opernjubiläum? Nichts da. Alles ist wieder gut in am digitalen Vorfreitag. Oder fast. Denn der Berg kreißte und presste, naja, einen tollen Artikel aus: Er ist von Jürgen Kleindienst, diesmal in der Rubrik, die auf gut sächsisch "Halogenscheinwerfer" heissen könnte, solange die lvz das Licht weiterhin nicht in Streifen fallen lassen will. Wie sich jkl über den Islam, seine Besitzergreifung Deutschlands bei gleichzeitiger Verweigerung von Bratwurst-, Sauerkraut- und Grundgesetzeinnahme hermacht, verhält sich zu jeder sarrazinesken Argumentation wie ein Meeresleuchten zu 6V-Taschenlampengefunzel.
Der Rest des lvz kulturteils flacht leider ab.
Skurril der Bericht über die Vorfreude auf den 50. Operngeburtstag, den Stephanie Olivia Schreier in ihrem Text über das Ehepaar Langhammer verfasst. Als eine der wenigen "Zivil-Zuschauer" erlebten die Werktätigen Thea und Günther, sie in cremefarbenem Kleid mit goldenen Fäden, er im Smoking, die damalige Eröffnung des neuen Opernhauses mit Wagners "Meistersinger" und parkten seinerzeit ihren nagelneuen Trabant in einer Reihe mit den Regierungskarossen. Heute, wo die Menschen "in Blaumann" und in "Tennisschuhen" statt Politbürozwirn die Oper besuchten, wären ihnen die Aufführungen vergällt.
Passend zu dieser erhebenden damaligen Erfahrung schildert Thomas Mayer, wie am 9. Oktober 1960 die Eröffnung der Oper vonstatten ging. Generalintendant Karl Kayser etwa trug ein Gedicht aus der Feder Max Zimmerings vor, Gewandhauskapellmeister Franz Konwitschny verglich die phantastische Akustik der Oper mit dem Resonanzboden einer Geige und Theater-Professor Hans Rodenberg fragte rhetorisch, ob "irgendjemandes Phantasie ausreichte, sich vorzustellen, dass nach einem solchen Bau Konrad Adenauer Bauarbeiter einladen könne." Wahrlich nicht, aber Rodenberg selbst wohl auch nicht, denn diese Geste scheint ebenso berichtenswert wie wohlkalkuliert gewesen zu sein, so wie heute jede Mitarbeiterehrung für 30-jährige Betriebszugehörigkeit. Walter Ulbricht liess sich noch zum Bonmot hinreissen, dass "Adenauer schließlich kein Holzarbeiter sei, sondern auf dem Holzwege".
Mayers triumphaler Schlusssatz, dass damals "die Hälfte eines Opernplatzes der Besucher bezahlte, die anderen 50% der Staat", lässt auf einen ungebrochen fortschreitenden Sozialismus schließen, denn die Staatsquote erreicht heute etwa 85%.
Am heutigen 9. Oktober führt Jochen Biganzoli Regie beim Wiedergänger von Wagners "Meistersinger"-Aufführung. Im Gespräch mit Peter Korfmacher erläutert der Regisseur, warum er die "deutsche Nationaloper schlechthin" als "Utopie einer Gesellschaft, in der Kunst und Kultur eine identitätsstiftende Rolle spielen" ansieht. Und gleichzeitig als Kern des Stücks eine kammerspielartige Liebesgeschichte ausmacht, die Dreiecksgeschichte zwischen Sachs, Beckmesser und Walther. Sie zeige "Situationskomik mit Hintersinn, im Loriotschen Sinne". Endlich begreift jemand das wahre deutsche Wesen. Vielleicht gewährt Sebastian Hartmann diesem Vorzeigedeutschen Asyl? Kommt es daraufhin doch noch zur Fusion von Oper und Schauspielhaus? Beim Thema Deutschland bleibt kein Auge trocken und keine Grenze sicher.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

lvz kultur vom 06.10.10: Leuze, Paoli, Wiglaf Droste & Israel

Wolfram Leuze, Kulturausschussvorsitzender, im Interview zum Thema "Wo spare ich Kultur ein" mit Peter Korfmacher. Einen konkreten Vorschlag macht er: Oper und Gewandhaus verwaltungstechnisch zusammenzulegen. Billig. Sogar poor lonesome comboy OBM Jung hat hier bereits Zustimmung signalisiert. Sonst: Weichgespülte Kacke. Der Schwarze Peter wird an "die Stadt" weitergereicht. Leuze erwarte "klare Ansagen", wo 2,5 Mio Euro eingespart werden sollen, falls das Land wirklich ernst macht. Feiger gehts nimmer. Im übrigen will Leuze z.B. lieber bei der Oper selbst einsparen als bei der Muko, weil er sich da im Einklang mit den Bürgern fühlt. Punkt eins: Leuze verschiebt die Verantwortung, Dresden zu stoppen, auf die Öffentlichkeit ("wäre ich der Bevölkerung dankbar, wenn sie verdeutlichen könnte, welche Folgen das hat"), nicht nur als Lautsprecher, ebenso als Meinungsmacher in Sachen Sparvorschläge. Punkt zwei: Leuze möchte reagieren, protestieren, im Rampenlicht stehen, nie als Akteur Stellung beziehen und Verantwortung zeigen.
Heißt: Kein eigener Vorschlag. Keine klare Stellungnahme. Abwarten und besserwissen.
Zu Punkt eins: Nix Verantwortung abwälzen. Hier und jetzt an über 100 Punkten Stellung beziehen gegen CDU und FDP im Land, die die Landesbühnen Sachsen aus ihrem Haus schmeissen wollen, um sie dem Unterhalt aller anderer Kultureinrichtungen, die von den Kulturräumen des Landes Sachsen bezahlt werden, aufzubürden. Verbündete suchen! Ideen haben. Reik Hesselbarth (FDP) zustimmen (wie die LINKEN) und umarmen. Kulturämter, Landräte, Theater, Bühnenverein, Politiker zusammenbringen. Nicht klugschwätzen ohne jegliche Konsequenz. Zu Punkt zwei: Klar sagen, dass die Kultur ebenso wie das Soziale kein Sparvolumen hergibt. Im Gegenteil. Landesbank zur Rechenschaft ziehen, weniger Marketing, weniger Apparat, mehr Inhalt, mehr Kultur. Aufrüsten, gerade wenns wehtut. Und Luft für eine Strukturänderung in drei Jahren sammeln. Währenddessen: Kreativwirtschaft stärken. Ansonsten: Weg von der Mainstreamkultur. Muko privatisieren. Überlegen, ob das Theaterhaus Jena Vorbild sein kann für eine Umwidmung des Stadttheaters. Verbunden mit einer Professionalisierung der latent selbstgefälligen und weitgehend amateurhaften OFF-Szene samt Stützung des bodenständigen Theaters der Jungen Welt, um den Unterbau für ein Theaterinteresse zu schaffen. Externe Aufträge suchen für die artenschutzbedrohten Theaterwerkstätten (vielleicht der MDR?, trotz Landesgrenzen Zusammenarbeit mit dem Theater Halle?). Und vor allem: Opernetat maßvoll streichen und im Grunde zusammenhalten für einen überregional interessanten Intendanten, der weiß, was er gemeinsam mit dem Gewandhaus veranstalten kann. Keine Provinzialisierung!!! Und wer von den Stadträten intimere Kenntnis hat von den Interna der Kulturbetriebe soll bitteschön mal eigene Gedanken haben, die Intendanten befragen (!) und konfrontieren, nicht wie Herr Leuze auf weichgespültem OBM-Kurs segeln.
Konservative aller Länder, ob Israel oder Deutschland, vereinigt euch! Heute beim Abend der Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck im Centraltheater hat ein Zuschauer bei Wiglaf Drostes Sottisen gegen überhebliche Deutsche, die Israel vorschreiben wollten, wie sie politisch zu handeln hätten, nicht mehr an sich halten können (im Gegensatz zu Guillaume Paoli, der die ständig betonte "besondere Verantwortung" der Deutschen ironisierte). Der Zuschauer erzählte von Israel, dass heute einzelne Shoaüberlebende am Hungertuch nagten. Die öffentliche Reaktion: Deutschland solle zahlen. Daraufhin beteiligten sich jüdische twentysomethings an der Diskussion und empörten sich lautstark: Verantwortlich seid ihr selbst! Lasst doch nach so vielen Jahren endlich die Vergangenheit Vergangenheit sein und Deutschland aus dem Spiel. Wohlgemerkt: Es ging um individuelle Verantwortung und kollektive Schuldzuweisung. Der das im Centraltheater sagte, war ein augenscheinlich in Deutschland lebender, gebrochen deutsch sprechender Jude von Mitte Dreißig. Dass Paoli und Droste gegensätzlicher Meinung waren, ging bei dem äußerst wohlwollenden und zurückhaltenden Publikum (und Paoli selbst) leider unter. Da wäre ein Gespräch spannend geworden. Sattdessen gabs einstudierte Polemiken und kein Gespräch. Lag nicht an Paoli.
Die Konservativen in Israel empören sich über ein mögliches Gastspiel des israelischen Orchesters unter Leitung von Meirav Magen Lelie in Bayreuth. Katharina Wagner hat das Orchester eingeladen. Es lebt sich leichter mit klaren Fronten. Holocaustüberlebende betrachten ein Gastspiel als Kapitulation. Zur Kenntnis: Richard Wagner wird in Israel boykottiert.

Dienstag, 5. Oktober 2010

lvz kultur vom 05.10.10: Semperoper, Gewandhausorchester, Borges & Georg-Schwarz-Straße

Die Semperoper beginnt die Spielzeit mit Richard Strauss' "Daphne". Da muss man schon wissen, warum man sie spielen möchte. Apollinisches und Dionysisches in melodischer Umklammerung. Und sonst? Natur. Liebe. Das Übliche. Boris Michael Gruhl schreibt von "Deutungswut" des Regisseurs Torsten Fischer. Hat der eine Idee gehabt? Er möchte die 1938 komponierte Musik und das - aus politischen Gründen - nicht mehr von Stefan Zweig, sondern von Joseph Gregor geschriebene Libretto als "ästhetischen Widerstand" sehen. Hat augenscheinlich nicht überzeugt. Eine Regie "mit dem Holzhammer" lässt zu Beginn Sophie Scholl als Daphne einen "Packen Flugblätter gegen den Kult des Dionysos" schleudern. Das wird weder den Nazis noch Dionysos gerecht. Schade. Regietheater muss sein. Aber wohl nicht so. Einzig der junge israelische Dirigent Omer Meir Wellber und dessen "Empfinden für Komplexität des Musikalischen" habe überzeugen können.
Heribert Blomstedts dritten Frühling mit dem Gewandhausorchester begleitet Peter Korfmacher bei einem Großen Concert, anlässlich dessen er mit dem ehemaligen Orchesterleiter sprach. Blomstedt berichtete, wie er - sich ausnahmsweise ohne persönlichen Fahrer, daher zu Fuß, durch Leipzig bewegend - das geistige Klima der Stadt erneut atmete. Es habe "mit Musik zu tun". Und für ihn zudem mit dem, der "romantischen Tradition" verpflichteten, Gewandhausorchester. Ansonsten unterhielten sich die beiden über abseitige Dinge wie Gott, das Christentum und Gnade, und über Anton Bruckners "vielleicht ein wenig beschränktes gesellschaftliches Auftreten", das gleichwohl eine "visionäre Musik", das "jedes Maß sprengte", erzeugen konnte. Allein dieser Hinweis, dass ein erwiesenermaßen "kein Weltmann" große Musik schöpft, ist heute selbst visionär: Lasst die Wohlstand erbenden Jünglinge doch in ihrer Wohlstandsmarinade ziehen, solange sie wollen, und schaut einzig auf die Talente. Aber schaut! Noch eine kleine Blomstedtsche Wahrheit am Rande: "Wenn ein Orchester das (Mozart, Haydn; die Red.) nicht regelmäßig spielt, verdorren manche Fähigkeiten". Sollte man den Kultureinsparpolitikern stecken.
Ansonsten ein etwas braver, aber nichtsdestotrotz erhellender Artikel von Steffen Georgi über Jorge Luis Borges' Essay-Band "Ein ewiger Traum" mitsamt dem schönen Satz des 23-jährigen Dichters: "Ich will beweisen, dass die Persönlichkeit ein Trugbild ist, verfügt von Dünkel und Gewohnheit, ohne metaphysisches Fundament oder inwendige Realität".
Außerdem das Wichtigste: Die Kärrnerarbeit im Kleinen. Verena Lutter berichtet über Jan Apitz' Initiative "Westbesuch", die der Leipziger Karl-Heine-Strasse und demnächst auch der Lütznerstraße (Kunsträume lindenow) und der Georg-Schwarz-Straße (HinzundkunZ, KunZstoffe) eine Menge Leben eingehaucht.
Und - kleine Sensation am Rande - die Unterstützung der LINKEN-Fraktion für Reik Hesselbarths (FDP) Vorstoß, das Gesetz des Sächsischen Landtags zur Novellierung der Kulturräume zu stoppen. LINKE unterstützen FDP! Das ist neu und beweist, dass jemand über seinen Schatten springen kann. Skadi Jennicke, kulturpolitische Sprecherin der LINKEN, gewinnt zunehmend an Statur. Respekt! Aber nur so besteht überhaupt eine Chance, großen Schaden von Leipzigs Kultur abzuwenden.

Montag, 4. Oktober 2010

lvz kultur vom 04.10.10: Musikalische Komödie,

Peter Korfmacher jubelt uns mal wieder die Muko hoch. Das hat er bisher stets gemacht, wenn Kürzungsdebatten anstanden, aber mit der jüngsten Inszenierung Cusch Jungs von "Jekyll & Hyde" bringt er die Dinge auf den Punkt. "Höchste Professionalität, Spielwut, Qualität" würden von allen Beteiligten abgeliefert, und "Großes Kino". Das sei "die Hauptsache in diesen Zeiten, in denen nichts mehr heilig scheint". Ansonsten gibt sich das Leitungsteam mit einer "straff und blutrünstig erzählten Geschichte zufrieden". Zwischentöne? Etwas, das mit diesem unter "Musical-Schocker"-Label segelnden Abend erzählt werden soll außer der Demonstration einer leerdrehenden Unterhaltungsmaschinerie selbst? Wenigstens ein zeitgemäßes Format? Anscheinend Fehlanzeige. Korfmacher sieht den Abend in Konkurrenz zu "den schönsten Splatter-Videos", und bejubelt ansonsten Marysol Ximénez-Carillos grandiose Charakterstudie der "dunklen Hure Lucy", die zudem "zum Niederknien" sänge. Außerdem beschäftigt sich Peter Korfmacher mit Nacktheit auf der Bühne. Er spricht von "gewagt gekleidet", "unanständigen Massenszenen" oder "Genretypischer Schein-Nacktheit". Wer scheint mehr verklemmt? Berichterstatter? Regieteam? Publikum? lvz-Leser?

Nacktheit ist auch das Thema der Glosse Korfmachers unter dem Titel "Blank ziehen". Dass die Muko mit ihren "Leberwurstpellen" ein lebendiges Bekenntnis gegen die "Moderne" oder gar "Avantgarde" als Synonyme der Nacktheit ablege, ist dem humorigen Lokalkritiker und Mukoretter irgendwie Recht, der Mann im Kritiker findet das "andererseits auch schade, eigentlich". Wo doch schon das Moulin Rouge geschlossen hat.

Soll Leipzig für dieses Genre wirklich mehrere Millionen Euro Steuergelder ausgeben? Was sind denn die Kriterien? Es stellt sich zum x-ten Mal die Frage, ob derlei mainstreamiger Massengeschmack mit einer Ästhetik aus dem letzten Jahrhundert wirklich eher Geld verdient als eine Kunst, die sich der Masse nicht sicher weiß, aber neben Vergnügen auch wirkliche Verstörung bietet? Hat denn nicht endlich mal jemand die Konsequenzen durchgerechnet, die eine Privatisierung der Muko zur Folge hätten?



Muko voll. Gewandhaus mit der "Reiheins" des MDR höchstens halb. "Anatevka" im Opernhaus Halle bejubelt. In der Oper Leipzig enden die Jazztage mit teutonischem Haudraufjazz von Peter Brötzmann umjubelt, bei der anschließenden "großen Kunst, die ihr Rätsel behält und Herausforderung bleibt" (Steve Coleman), wie Ulrich Steinmetzger schreibt, verlassen die Zuschauer türenschlagend den Saal. Das Comedyduo "Elsterglanz" schaffte es im Haus Auensee, mit "Dumpfhumor" und weiteren Rülpsern von der Bühne die Massen (Zwei mal 2000) zu begeistern, während Theresa Rentsch sich wenigstens froh über den Anblick hunderter Männer gab, die zu Kindern regredierten und - "egal worüber" - "einen Abend so richtig lachen konnten. Das konnten augenscheinlich auch die Zuschauer bei den Sächsischen Amateurtheatertagen im Werk II bei der Inszenierung von "Happy Midsummernight" nach W. Allen, wenn ein orgiastischer Höhepunkt durch einen auf die Bühnen rennenden "Ejakulateur" dargestellt wird, der, ein Deutschland-Fähnchen schwenkend, "inbrünstig 'Tor, Tor, Tor' brüllt". "Der Rest war Feiern", schreibt dazu Lars Schmidt.

Dass bei Brachialvergnügungen wie der "Modell-Hobby-Spiel-Messe" auch schon mal die Emphase mit den lvz-Headlinern durchgeht, ist im Lokalteil zu erleben, wo der längst abgeschaffte Korrektor die Überschrift "Die Messe der zerissenen Familien" zuließ. Bei der dort anwesenden Jugend kann einem Angst und Bange um Deutschlands Zukunft werden.

Da hält doch tatsächlich die Kulturfahne des Tages FDP-Stadtrat Reik Hesselbarth hoch, der sich zumindest verbal gegen seine eigene Fraktion im Sächsischen Landtag wendet. Die will - gemeinsam mit der CDU - die Kulturraumgelder u.a. um 7 Mio Euro für die Entsorgung der landeseigenen Landesbühnen-Zuschüsse kürzen.