Mittwoch, 27. Oktober 2010

lvz kultur vom 27.10.10: Seligmann, Irina Pauls & Wallraf Richartz

Rafael Seligmann will den Deutschen nicht wehtun. So klug er ist, so vernünftig ist er auch. Er weiß genau, Menschen, die Angst haben, sind sonst zu allem fähig. Die hysterische Kakophonie von moslemfeindlichen Eruptionen in einer deutschen Öffentlichkeit, die sonst mit Heftigkeiten eher hinterm Berg hält, bezeichnet der "Publizist, Schriftsteller und Journalist" Raphael Seligmann als Haufen von Scrabble-Steinchen, die in eine vernünftige Ordnung gebracht werden können (und müssen), statt dass man sie wütend vom Tisch fegt und das "Spiel" aufgibt.
Sarrazins "primitive sozialdarwinistische Erklärung" seiner eigenen "Schreckensformel" vom zunehmend idiotischen, sich selbst abschaffenden Deutschland, kommt einer vielleicht legasthenischen, vielleicht perfiden Aneinanderreihung einzelner herumliegender Buchstaben im großen Integrations-Scrabble gleich. Hier sei "Gelassenheit gefordert" gegenüber den Alphabetisierungsversuchen eines "geltungssüchtigen Provokateurs" wie Sarrazin.
Viel stärker als dessen medienverstärkte ausgebrochene Gedankenbrocken irritiert Seligmann die Reaktion der Angst vor der deutschen Angst habenden Politikerkaste. Klammheimlich lachen (und sich ärgern) musste Seligmann, als von ihnen die Schalmei der "christlich-jüdischen Tradition Deutschlands" gesungen wurde. Vernünftigerweise weist das intellektuelle Navigationssystem der deutschen Öffentlichkeit auf die Mühen der Ebene, die Arbeit an Bildung für die türkischstämmigen Deutschen, am Hobeln des ebenholzmäßigen Ressentiments der Mehrheit; schlicht, am Willen der Deutschen, gemeinsam mit anderen "Menschen" statt "Arbeitskräften" leben zu wollen.

Irina Pauls ist wütend. Worauf und auf wen, bleibt unklar. Wohl darauf, nicht in Berlin zu sein, "kein Umfeld, keine Community, keinen Austausch" zu haben in Leipzig, während das El Dorado so nah scheint. Ausgerechnet die beinahe autistische Choreografin, die zuletzt die künstlerische Leitung des Leipziger Tanztheaters innehatte, vermisst die Vernetzung, das Andocken von Tanzkünstlern an ihre Company, sagt sie Janina Fleischer. Jetzt trennt sich, was nie zusammengewachsen war: Die D.C. Dilligence, das Profiensemble am LTT, und die Arbeit des LTT mit "Kindern, Jugendlichen, Senioren, Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund". Pauls geht in die freie Arbeit im professionellen Tanzbereich zurück. Der Berliner Alessio Trevisano übernimmt die Leitung der Company des Leipziger Tanztheaters. Wie wenig die besessene Leipziger Choreografin einem Austausch jenseits des Profitanzes abgewinnen konnte, hat ihre leztze Choreografie gezeigt, die als Arbeit mit Senioren und Profis angekündigt wurde. Zu sehen war eine Art Apartheid unter den Tänzern, den Amateuren, Halbprofis und Profis. Vermischen durften sie sich erst im Applaus, als je ein Tänzer zwei Amateure an die Hand nehmen durfte, verkrampft, wie selten eine Choreografie zu sehen war.

Im Kölner Wallraf-Richartz-Museum sind Bilder alter Meister jeweils im Dialog mit Fotografien junger Meister zu sehen, Ulrich Traub berichtet über die Ausstellung "Auf Leben und Tod". In einer am zeitlichen Ablauf des Lebens orientierten Schau, die besonders das Menschenbild der Künstler deutlich machen will, zeigen sich interessante Unterschiede. Natürlich orientieren sich, reagieren die "Jungen" eher auf die "Alten", auf ihre Sujets, Formen, Themen (als umgekehrt;). Die Körperdarstellung der heutigen Zeit sei allerdings pessimistischer, lakonischer, extremer als die am Menschenbild und der Symbolik des Christentums orientierten Maler. Bei aller "formalen Nähe" zeige sich doch der "gewandelte Umgang mit Körper und Geschlecht" in der gegenwärtigen Fotografie. Insbesondere die Tätowierungen der Fotomodelle drücken eine Radikalisierung des Umgangs mit Körperlichkeit aus. Die Qualität der Fotografien, sie stammen aus der bislang kaum bekannten Bielefelder Sammlung Teutloff, sei übrigens groß. Die von Boucher, Tizian,Tintoretto, Bruyn und Ingres bekanntermaßen auch.

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