Dienstag, 5. Oktober 2010

lvz kultur vom 05.10.10: Semperoper, Gewandhausorchester, Borges & Georg-Schwarz-Straße

Die Semperoper beginnt die Spielzeit mit Richard Strauss' "Daphne". Da muss man schon wissen, warum man sie spielen möchte. Apollinisches und Dionysisches in melodischer Umklammerung. Und sonst? Natur. Liebe. Das Übliche. Boris Michael Gruhl schreibt von "Deutungswut" des Regisseurs Torsten Fischer. Hat der eine Idee gehabt? Er möchte die 1938 komponierte Musik und das - aus politischen Gründen - nicht mehr von Stefan Zweig, sondern von Joseph Gregor geschriebene Libretto als "ästhetischen Widerstand" sehen. Hat augenscheinlich nicht überzeugt. Eine Regie "mit dem Holzhammer" lässt zu Beginn Sophie Scholl als Daphne einen "Packen Flugblätter gegen den Kult des Dionysos" schleudern. Das wird weder den Nazis noch Dionysos gerecht. Schade. Regietheater muss sein. Aber wohl nicht so. Einzig der junge israelische Dirigent Omer Meir Wellber und dessen "Empfinden für Komplexität des Musikalischen" habe überzeugen können.
Heribert Blomstedts dritten Frühling mit dem Gewandhausorchester begleitet Peter Korfmacher bei einem Großen Concert, anlässlich dessen er mit dem ehemaligen Orchesterleiter sprach. Blomstedt berichtete, wie er - sich ausnahmsweise ohne persönlichen Fahrer, daher zu Fuß, durch Leipzig bewegend - das geistige Klima der Stadt erneut atmete. Es habe "mit Musik zu tun". Und für ihn zudem mit dem, der "romantischen Tradition" verpflichteten, Gewandhausorchester. Ansonsten unterhielten sich die beiden über abseitige Dinge wie Gott, das Christentum und Gnade, und über Anton Bruckners "vielleicht ein wenig beschränktes gesellschaftliches Auftreten", das gleichwohl eine "visionäre Musik", das "jedes Maß sprengte", erzeugen konnte. Allein dieser Hinweis, dass ein erwiesenermaßen "kein Weltmann" große Musik schöpft, ist heute selbst visionär: Lasst die Wohlstand erbenden Jünglinge doch in ihrer Wohlstandsmarinade ziehen, solange sie wollen, und schaut einzig auf die Talente. Aber schaut! Noch eine kleine Blomstedtsche Wahrheit am Rande: "Wenn ein Orchester das (Mozart, Haydn; die Red.) nicht regelmäßig spielt, verdorren manche Fähigkeiten". Sollte man den Kultureinsparpolitikern stecken.
Ansonsten ein etwas braver, aber nichtsdestotrotz erhellender Artikel von Steffen Georgi über Jorge Luis Borges' Essay-Band "Ein ewiger Traum" mitsamt dem schönen Satz des 23-jährigen Dichters: "Ich will beweisen, dass die Persönlichkeit ein Trugbild ist, verfügt von Dünkel und Gewohnheit, ohne metaphysisches Fundament oder inwendige Realität".
Außerdem das Wichtigste: Die Kärrnerarbeit im Kleinen. Verena Lutter berichtet über Jan Apitz' Initiative "Westbesuch", die der Leipziger Karl-Heine-Strasse und demnächst auch der Lütznerstraße (Kunsträume lindenow) und der Georg-Schwarz-Straße (HinzundkunZ, KunZstoffe) eine Menge Leben eingehaucht.
Und - kleine Sensation am Rande - die Unterstützung der LINKEN-Fraktion für Reik Hesselbarths (FDP) Vorstoß, das Gesetz des Sächsischen Landtags zur Novellierung der Kulturräume zu stoppen. LINKE unterstützen FDP! Das ist neu und beweist, dass jemand über seinen Schatten springen kann. Skadi Jennicke, kulturpolitische Sprecherin der LINKEN, gewinnt zunehmend an Statur. Respekt! Aber nur so besteht überhaupt eine Chance, großen Schaden von Leipzigs Kultur abzuwenden.

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