Samstag, 16. Oktober 2010

lvz kultur vom 16.10.10:Thalia Theater, Mario Barth, Franzen & Der blaue Engel

Hoffentlich wird das Verbot neonazistischer Demonstrationen in Leipzig kein Pyrrhussieg, der den vielen vielen Gegnern zwar ein gutes Gefühl, aber auch mehr als nur sportliche Rangeleien einhandeln wird, wenn frustrierte Polithooligans die Sau rauslassen.

Ein Meilenstein auf dem Weg zu noch mehr Rechtsradikalismus ist die beabsichtigte Schließung des Thalia Theaters Halle. In ihrem Interview mit Nina May redet Intendantin Annegret Hahn offen, ehrlich und durchaus emotional über die Situation ihrer Mitarbeiter wie über ihre ernst gemeinten Versuche, verkrustete Theaterstrukturen zu überwinden. Das einzige erkennbare Konzept der Geschäftsführung der Theater GmbH wie der politischen Spitze Halles ist es, ein unbequemes, um Inhalte statt um Repräsentation bemühtes Theater schließen zu wollen. Die Heuchelei von OBM Szabados wie von Geschäftsführer Stiska sind da nur zu durchsichtig. "Tatsachen schaffen", ohne erst Diskussionen zuzulassen. Vielleicht täuschen sie sich ja tatsächlich und die betroffene Bevölkerung - und das sind mehr, als es den Anschein hat - lassen sich das in ihrem eigenen Interesse nicht gefallen.
Auf die Frage, ob die erfolgte Fusion und beabsichtigte Schließung zu einer "Verwischung der Profile" der einzelnen Sparten führt, antwortet Annegret Hahn ganz klar: "Ja." Auch die Scheinalternative, mehr Kindertheater an den anderen Sparten (Schauspiel, Puppentheater, Oper) anzubieten, beantwortet sie deutlich mit "Mir stehen die Haare zu Berge" und "Unverfrorenheit". Das Schlimme ist, dass sie auf die folgenden Argumente und Beispiele, wie am Thalia Zielgruppenarbeit gemacht und (!) "andere Formen von Theaterarbeit" ausprobiert wurden, kaum je eine sachliche Antwort, sondern einsame administrative Entscheidungen ernten wird.
Zentral ist Hahns Haltung, dass das "Stadttheaterprinzip an sich zur Disposition steht". Vielleicht argumentiert sie aus anderer Position als Sebastian Hartmann, der in Leipzig zum nämlichen Befund gerade eine Operation ohne Narkose durchführt und vermutlich von der weiterhin dominanten bürgerlichen Schicht geschasst werden wird. Aber mit ähnlichem Background, ähnlicher Konsequenz und ähnlicher Verbohrtheit arbeitet, die mitunter an selbstherrliche Don Quichotterie erinnert. Und dennoch keinen echten Einwand gegen die verschiedenen Versuche, neue Wege zu gehen, darstellt.
In einem Kommentar benennt Nina May das Problem mit den Worten, "Kürzungsdebatten zeigen, dass die erkämpfte Wertschätzung von Kinder- und Jugendtheater in Zeiten der Krise schnell passé ist. Was absurd ist angesichts all der Debatten über frühkindliche Bildung oder Kulturmüdigkeit nachwachsender Generationen." All das darf keinen Freifahrtschein für das Genre bedeuten, aber die Verpflichtung, dessen Leistungen, die künstlerischen und gesamtgesellschaftlichen, zu registrieren und tatsächlich ernstzunehmen.

Ganz andere Probleme hat da Mario Barth. Wohin bloß mit all den Zuschauern? Jürgen Kleindienst rechnet schnell mal im Kopf zusammen und - kommt allein für 2010 bei den drei Shows von "Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch" in der Arena Leipzig auf eine Summe, die die Zuschauerzahl der gesamten Lachmesse 2010 übertreffen wird. Das formuliert Kleindienst mehr mit horrortrainiertem Schauder in der Stimme als positiv beeindruckt. Etwas selbstquälerisch befindet er jedoch, "Mario Barth ist die verdiente Rache für das Projekt der Emanzipation, die aus Männern Weicheier gemacht und Frauen Hosen angezogen hat." Ob der kulturelle Fortschritt von ohne Not tiefergelegten männlichen Hirnzellen, über sich selbst lachen zu können, wirklich aufwiegt, dass sie über anderes gar nicht mehr lachen können? Perfide und ebenfalls mit einem Hauch von Rache versehen, endet Kleindienst damit, Männern leuchtende Augen nachzusagen, wenn Barth den Flaschenöffner zum unverzichtbaren Gebrauchsgegenstand erklärt, während Frauen als solchen eher ihren Partner selbst sehen - und dies möglichst ohne allzu deutlichen Triumph in der Stimme.

Laut dpa kritisiert der Historiker Wolfgang Wippermann die neue Hitler-Ausstellung in Berlin. Er verstehe überhaupt nicht, warum man bei der Konzeption erkennbar so viel Angst vor einer möglichen Hitlerverehrung hatte, der sei tot und insofern ungefährlich. Stattdessen gehörten die Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere die der Rom, thematisiert und beachtet, ebenso wie heutige rechtsradikale Erscheinungen.
Norbert Wehrstedts Besprechung der Revue "Der blaue Engel" im Spiegelzelt auf dem Burgplatz gehört in die Rubrik "Die lvz präsentiert jeden Scheiß und jazzt ihn dementsprechend hoch". Folgerichtig spricht Wehrstedt lieber über Filme als über die Revue und begnügt sich mit der demaskierenden Sottise, "Anästhesistin Globisch aus der Sachsenklinik (In aller Freundschaft) tanzt, singt und verführt als fesche Lola im Spiegelzelt auf dem Leipziger Burgplatz." Den finden die amüsierwilligen Sachsen wenigstens im Schlaf.
Dass Jonathan Franzen im wiederbelebten Literarischen Herbst im Haus des Buches aus seinem neuen Roman "Freiheit" liest - sogar auf Deutsch! -, gehört sicher zu den bemerkenswerten Ereignissen in der Buchmessestadt. Theresa Wiedemann beschreibt die Lesung etwas zu hölzern vor lauter Ehrfurcht. Allerdings macht die lapidare wie schöne Bemerkung "Die Linie, die Grausamkeit eigentlich von Alltäglichem trennt, hebt Jonathan Franzen einfach auf" zumindest Lust auf das Buch.
"Die begeisternde Lachmesse-Eröffnung" mit dem Düsseldorfer Kommödchen, die Mark Daniel besuchte und bei der es im Anschluss keine Sushigelage sondern Bemmen gab, soll zumindest nicht nichterwähnt werden.

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