Donnerstag, 30. Dezember 2010

lvz kultur vom 30.12.10: Hartmann & Girardet, Hoentjes & Hennig und die Leipziger Schule

Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Sebastian Hartmann hat wie jedes Jahr die Zähne zusammengebissen und und Georg Girardet die Treppen zum Kulturdezernat hochgeholfen. Hartmann und Girardet sind in Jürgen Kleindiensts Jahresrückblick Kultur aus dem Jahr 2020 die letzten Mohikaner, die das Kulturraumgemetzel überlebt haben, da können sich die übrigen Kultureinrichtungen noch so sehr in einer Wagenburg verschanzt haben. Die Leuchtmunitions- und Wasserpistolen der sächsischen Finanzbeamten hat die wasserscheue, lichtempfindliche Kulturschickeria zermürbt, bis die rathengestählte Todesschwadron der Landesbühnen Sachsen ihr den endgültigen Garaus gemacht hat. Sie ist es jetzt, die alle Stadttheater außerhalb der Schlossbühnen Dresdens bespielt, streng rationiert mittels Kulturgutscheinen, die Dresden an willfährige Stadtoberhäupter verteilen lässt. Einen Intendanten ersparen sich die Bühnen ohnehin. Gespielt wird nur, was sich in der Top 30 der aktuellen Statistik des Deutschen Bühnenvereins wiederfindet. "Reclam mit Beleuchtung" heißt das Stichwort im Aufführungsvertrag, mit dem Werktreue und Abtragen alter Funduskostüme gewährleistet werden. Die Rehamaßnahme des Münchner Künstlersozialfonds, aus dem die - laut Kleindienst 250 - Schauspieler der Landesbühnen bezahlt werden, hat die Eigeneinnahmequote der Bühnen auf satte 170% schießen lassen. Was waren das noch Zeiten, als Theater zu den Kostgängern der Kultur gehörte. Heute zahlen sie, wie weiland die Deutsche Bundesbank, die Überschüsse an den Landeshaushalt. Könnte ja sein, dass mal ein Prozess droht, den ein Zuschauer anstrengt, der bei der Uraufführung 1897 doch ein anderes Kostüm auf der Bühne gesehen hat als in der Neuinszenierung 2018.
Und was machen Neualtneualtneudezernent Georg Girardet und Sebastian Hartmann den ganzen lieben langen Tag? Wenn man Jürgen Kleindienst glaubt, ist Georg Girardet der einzige Abonnent, den Hartmanns Ein-Mann-Theater noch hat. Der Blinde hilft dem Lahmen (schließlich hatte Girardet Hartmann nach Leipzig geholt), getreu diesem Motto, das Hartmann erst akzeptieren konnte, als er sich in vollgekifftem Zustand nicht mehr an seine Nietzschelektüre erinnern konnte und versehentlich bei Schopenhauer geblättert hat, was einen energetischen Kollaps erzeugte, für den Neurologen erst anhand des 2. Thermodynamischen Gesetzes eine Erklärung fanden, und von dem sich Hartmann im Nebenjob als Chef seiner eigenen idellen Nachfolgeorganisation der Leipziger Bahnhofsmission gerade mühsam aufpäppelt. Dort wartet er wie stets auf Peter-René Lüdicke, dem, wie Kleindienst formuliert: "Einmannensemble, weil er auch Frauenrollen solide hinbekommt." Lüdecke, der wöchentlich für zwei Vorstellungen nach Leipzig reist, schafft es trotzdem, Girardet stets aufs Neue zu der begeisterten Äußerung hinzureißen, woher er, Hartmann, bloß diese ständigen Neuengagements an Leipzigs Allerneuestem Schauspielhaus herbekäme. Schließlich sei sein Etat ja längst nicht mehr so üppig, seit die Tarifaufwüchse für den einzigen Beschäftigten von der Stiftung 'Lebensrettung für Nachwendewaise' seit 2019 nur noch je zur Hälfte übernommen werden.
Das Lüdickesche Einmannensemble bespielt übrigens den Spielplatz des seinerzeitigen Centraltheaters, das Weiße Haus samt Auslaufgelände des ehemaligen Parkplatzes. Außer Girardet schauen wenigstens auch manche Studenten der benachbarten Hochschule für Musik und Theater aus den Fenstern, um einen Blick auf die letzten lebenden Dinosaurier der Stadt zu werfen, während ihre Kollegen des Fachbereichs Instrumentalmusik abends ab 19:30 Uhr heimlich Abschriften der Noten des Kanons "Freude schöner Götterfunke" für die benachbarten Kitaerzieher malen, um nicht von der Gema erwischt zu werden.

Die niederländische Performance-Künstlerin Anna Hoentjes plant in Reminiszens an die Turn- und Sportfeste im Leipziger Zentralstadion und unter Mitarbeit von Heike Hennig eine Massenchoreografie in der umbenannten Red Bull Arena. "Es soll eine Mischung aus Popkultur, zeitgenössischem Tanz und Elementen sozialistischer Sportveranstaltungen" werden. Anders als zu DDR-Zeiten soll nicht allein das Kollektiv im Vordergrund stehen, sondern eine Individualisierung möglichst vieler der Teilnehmer. Wie Magdalena Fröhlich für lvz berichtet, werden 2000 Teilnehmer gesucht, die sich an dem Projekt "Turn!" beteilign wollen. Die Aufführung soll am 4. Juni 2011 stattfinden. Ein Videoclip mit den Anforderungen kann von der Homepage turn-leipzigdotde heruntergeladen werden.

Einen etwas merkwürdigen Rückblick 2010 samt Ausblick auf 2011 für den Bereich Bildende Kunst in Leipzig, gemeint ist vielmehr die "(Neue) Leipziger Schule" aus dem - heutigen und ehemaligen - Umfeld der Hochschule für Grafik und Buchkunst, schreibt Meinhard Michael. Was sich anfangs liest wie eine witzige Glosse auf den Leipziger Größenwahn, der sich in Form von wiederkehrender "Quartalsdämlichkeit" äußere, wird der Artikel mehr und mehr zu einem who's who der Leipziger Kunstszene und dem Lamento, dass die Halbmillionenstadt ihre Künstler nicht ernähren könne, so dass diese zwangsläufig "für den Export" arbeiten müssten. Als ob nicht das Arbeitszimmer eines Unternehmers aus Sao Paulo oder die Jurte eines Mongolischen Stammesfürsten durch ein Bild Matthias Weischers geadelt werden würde. Freuen tut sich Michael auf die kommende Großausstellung zu 150 Jahren Fotografie in Leipzig, die im Grassimuseum, Stadtgeschichtlichen Museum und Bildermuseum gleichzeitig laufen solle.

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