Montag, 6. Dezember 2010

lvz kultur vom 6.12.10: Gottschalk, Hänsel und Gretel & Kultur(räume)

Ein Wett-Kandidat bei Gottschalks "Wetten, dass..." hat "komplexe Verletzungen an der Halswirbelsäule", Rückenmarksschädigungen und Lähmungserscheinungen. Die Sendung wurde daraufhin abgebrochen. Der schlimme Unfall hatte sofort eine Diskussion über Gefahr und Konkurrenzkampf im heutigen Fernsehen, über Zynismus in den Medien, über Quoten und die Notwendigkeit einer neuen Fernsehethik zur Folge. In einem Kommentar schreibt Mark Daniel, "Allzu lange wird die Diskussion nicht dauern, denn bald bündelt die nächste durchs Medien-Dorf getriebene Sau alle Aufmerksamkeit und Empörung".
Vor 40, 30, 20 Jahren hätte es vielleicht - wie in der Politik - Abrüstungsverhandlungen "für den ganzen übersteuerten Zirkus der dumpfen Superlative" gegeben, Intendanten wie Präsidenten hätten eine Art von Vernunft walten lassen. Heute nicht mehr. Spieler beherrschen das Parkett. Die hier und jetzt im Konkurrenzkampf den Gewinn einfahren wollen. In Politik, Finanz- und sogenannter Realwirtschaft, Sport. Und Medien. Und uns selbst. Niemand zeige mit dem Finger auf den anderen. Daniel hat ja recht. Selbst die wichtigsten Debatten werden mehr oder weniger bewusst zu Tode geritten. Wort und Argumente abgenutzt, bis keines mehr brauchbar ist. Man sich selbst ekelt, darüber weiter zu reden. Nur - den Fernseher kann man im Zweifelsfall ausschalten. Für die Demokratie, geschweige das Klima, gibt es nicht mal einen stand-by.

Das sächsische Innenministerium (Minister Markus Ulbig, CDU) plant, von allen Initiativen und Vereinen, die vom Staat Geld erhalten, eine Treueerklärung auf die Verfassung einzufordern sowie von diesen eine Überprüfung aller ihrer Partner auf extremistische Tendenzen. Das beträfe dann nicht mehr "nur" Programme zur Förderung von Toleranz o.ä., sondern auch Fußballvereine oder Freiwillige Feuerwehren, wie Michael Bartsch schreibt. Der Staats- und VerfassungsrechtlerUllrich Battis von der Berliner Humboldt-Universität sieht für den zweiten Teil des Vorhabens allerdings keine rechtliche Grundlage. Lutz Richter vom Alternativen Kultur- und Bildungszentrum Pirna, die diese Erklärung verweigert haben, glaubt sogar eher an die Absicht, "Leute auf Linie zu bringen und Förderprogramme kräftig auszusieben."
Ob es wohl auch bald eine Klausel gibt, nach der Wirtschaftsunternehmen, die bestechen und betrügen, keine Wirtschaftshilfen oder öffentliche Aufträge mehr erhalten?

Peter Korfmacher muss lange suchen, um die Inszenierung "Hänsel und Gretel" an der Oper Leipzig schönzureden. Da er genug Platz zur Verfügung hat, findet er auch etwas, denn "nichts braucht die Oper im Moment so dringend wie einen solchen absehbaren Publikumserfolg." Sie braucht ihn scheinbar, um nicht sofort ohne Gnade in der derzeitig aufgeheizten Kürzungsdebatte ausgeschlachtet zu werden. Doch ein starker Publikumserfolg ("bietet viel fürs Auge, für die Ohren, fürs Gemüt") trotz oder wegen schwacher Inszenierung, die der Musik allen Raum lässt, und ihn z.B. den Sängern nimmt, ist eher ein Argument für eine Oper, die keine (über-)regionale Ausstrahlung braucht. Regisseurin Birgit Eckenweber gibt sich in Hänsel und Gretel "mit wenig Regie zufrieden", das erzeugt "Längen", vor allem im ersten Teil. Der "Vater" wird derweil von der Regie allein gelassen, "Mutter" und Kinder von der Ausstattung. Die effektheischende Ausstattung (Alexander Mudlagks) würde hier wie auch sonst oft zu Unrecht "mit Regie verwechselt". GMD Ulf Schirmer legt Tempi und Dynamik ohne Rücksicht auf die Sänger an, der Kinder- und Jugendchor agiert "hart an der Grenze zum Sakralkitsch", Besenbinder Peter sei gesanglich "ziemlich grobmotorisch". Auch sonst wenig Poesie. Natürlich auch gute Gesangsleistungen. Am Schluss das vernichtende Lob: "Kinder jedenfalls werden diese Produktion mögen und ihre Eltern und Großeltern auch."

"Muss sich Kultur rechnen?" Nein, befand gleich zu Beginn Bernhard Freiherr Loeffelholz von Colberg, ehemaliger Präsident des Sächsischen Kultursenats. Die Diskussionsrunde von Gewandhaus, mdr Figaro und lvz, über die Vera Wolfskämp schreibt, litt augenscheinlich an ihrer Zusammensetzung. Unter der Moderation von Peter Korfmacher (lvz) und Thomas Bille (mdr) fand sich kein Gegenredner, so dass der Intendant der Dresdner Musikfestspiele, Jan Vogler, für die abwesenden Ökonomen deren Position übernahm. Aus Überdruss, "ständig vom Geld sprechen" zu sollen, verkündete er euphorisch: "Es wird immer Kultur geben, solange es Publikum gibt!"
Dass das Ökonomische - wieder Loeffelholz - eine dienende Funktion gegenüber der Kultur habe, werden die Damen und Herren Politiker mit offenen Ohren aufgenommen haben. Zum einen herein, zum anderen heraus.

In der Interviewreihe mit Leipziger Landtagsabgeordneten zum Kulturraumgesetz, über das am 15. Dezember abgestimmt wird, antwortet heute Robert Clemen (CDU) den Fragen von Mathias Woebking. Clemen begründet seine Zustimmung zur Novellierung - und damit zur Kürzung der Gelder für alle bisherigen Kulturräume und ihrer Einrichtungen - mit einem neuen Konzept für die Landesbühnen Sachsen, das eindeutig auf Kosten städtischer Kultur gehen soll. Clemen will die Landesbühnen "als Ersatz für bestehende oder schon nicht mehr existierende Kulturangebote" den Kulturräumen unterjubeln. Die Kulturräume seien ohnehin weniger der "urbanen Ballungsräume" wegen, als für die ländlichen Regionen des Freistaats geschaffen worden.
Es erscheint geradezu grotesk, dass mit dieser Argumentation eine Landeseinrichtung des Freistaats in die kommunale Verantwortung hinein (und auf Kosten der Kommunen) entlassen werden soll, während gleichzeitig Dresdens Repräsentationkultur als eigentliches Spielfeld der sächsischen Kulturpolitik erkoren wird. Das Rechtsgutachten Prof. Ossenbühls bezweifelt gerade die Rechtmäßigkeit dieses Vorhabens. Gleichzeitig sollen die Sitzgemeinde Radebeul, der Landkreis und die Mittelstädte "in der Fläche" ebenfalls für die Landesbühnen Sachsen zahlen, obwohl ihnen künftig weniger Geld zur Verfügung stehen wird. Die verarmten Kommunen durch vielerlei Kürzungen im Regen stehen zu lassen, sie gleichzeitig zu höheren Eigenleistungen aufzufordern und ihre weniger werden Mittel nicht mehr für die gewachsene Kultur vor Ort, sondern für ein Ufo aus Radebeul einzusetzen, ist in Sachsen niemals diskutiert worden. Es ist Erpressung von Seiten des Landes, die nicht an die Wichtigkeit ihrer eigenen Kultureinrichtungen glaubt, sofern sie nicht in Dresdens Stadtgrenzen angesiedelt sind.
Anders würde sich diese Argumentation darstellen, wenn das Land die Kosten für die Landesbühnen auf die Zuschüsse für die Kulturräume drauflegte. Dann bliebe den Städten die Option und die Verhandlungsmöglichkeiten, ob sie die Angebote der Landesbühnen nutzen wollen und können.
Dass Clemen selbst nicht recht an seine Argumentation glaubt, ist auch der vollends verqueren Rechnung anzusehen, mit der er Zuschusserhöhungen von 2005 mit geplanten Kürzungen 2010 verrechnen will und sich so die Zuschüsse an Leipzig selbst schönrechnet. Das ist plump und unwürdig, nicht nur seinen Wählern gegenüber.

Außerdem feiert Rolf Hoppe in seinem zum Theater umgebauten Kuhstall am Rande Dresdens seinen 80. Geburtstag. "Nie war Rock mehr Pop": Die Sportfreunde Stiller haben für Jennifer Beck eine Rolle rückwärts gemacht, ihr Konzert in der Arena war zum einen eine Zeitreise in die 90er und gipfelte in der "Massenkompatibilität". Caroline Bock berichtet über den Triumph für Roman Polanskis in Babelsberg gedrehten Thriller "Der Ghostwriter" beim Europäischen Filmpreis, bei dem er gleich sechs Trophäen abräumte. Beth Ditto und ihre Band Gossip überzeugten Caroline Baetge in der Arena. Die "One-Woman-Show" sei nicht nur überzeugend, sondern in ihrer erfolgreichen Attacke auf gängige "Schönheitsideale" wenn schon nicht "echt", dann immerhin doch sympathisch. Ali Samadi Ahadi erhält den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis für seine Dokumentation der iranischen Wahlen 2009. Benedikt Leßmann konzediert dem Dirigenten der Berlin Sinfonietta, Francesco La Vecchia, "dirigentisches Unvermögen" in vielfacher Hinsicht. Das Publikum, das "professionell" abkassiert würde, erhalte nur "mediokres" Gespiele. Anja Gronau hat es sich in ihrer Fassung des Kleistschen Kohlhaas augenscheinlich zu einfach gemacht. Spontisprüche und ein allgemeines "Lob des Widerstands" könnte nicht mal dem Publikum einen Spiegel vorhalten, sofern es das denn wollte. "Wer immer nur komisch ist", könne kaum ernst genommen werden, meint Magdalena Fröhlich.

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