Freitag, 31. Dezember 2010

lvz kultur vom 31.12.10: Chailly & der Zorn, Kreisler, Moon Harbour & Leipzigs Bildermuseum

Peter Korfmacher berichtet über Beethovens Neunte am Gewandhaus, Riccardo Chailly leitete das Orchester und die vereinigten Chöre von Gewandhaus und MDR. Korfmachers Text unter dem Titel "kompromisslos unbequem" ist der eines Kenners und Connaisseurs, manche Details kaum verstehbar, aber das Emphatische, das der Text über Chaillys augenscheinlich außerordentliches Dirigat empfindet, lässt sich auch anders zusammenfassen. Hier eine Liste der Adjekte, mit denen Korfmacher seine Eindrücke zu fassen versucht:

tumultuarisch - gewaltig - unerbittlich - kristallin - brodelnd - brutal - kunstvoll - individuell - klar - heroisch - apollinisch - gefährlich - unterschätzt - banal - erbarmungslos - halsbrecherisch - ungefährdet - kompromisslos - bestialisch - klangschön - klanggewaltig - eindrucksvoll - warm - superb - satt - autoritär - gewaltsam - verordnet - befohlen - eingeprügelt - doppelbödig - abgründig - lärmend - brüderlich - zornig - wahrhaftig - kompromisslos - unbequem.

Nun weiß fast jeder berufsmäßige Schreiber, wie zurückhaltend man mit Adjektiven umgehen soll. Doch keine Regel ohne Ausnahmen. Korfmachers Text geben sie einen pathetischen Grundton, den keine seiner darin hineingeschummelten Analysen vergessen machen kann. Ihre fast durchweg ekstatischen Farben setzen die Basslinie einer Überwältigung, die beinahe nach Kriegsberichterstattung klingt. Bei Peter Korfmacher führt sie am Ende tatsächlich zu einer merkwürdigen Unschärfe. Da, wo kfm die Apotheose der Freude, ja, des "Paradieses der brüderlichen Weltumarmung" erwartet, zeige Chailly "Züge zornigen Trotzes" und führe das Publikum, und mit ihm Korfmacher, "eher in die Schützengräben der Zukunft." Das passt zu dem fehlenden "allerletzten Ton", die Gewandhausmusiker "hören ... einfach auf." Korfmacher: "Kein Zweifel, dass etwas folgen muss." Hier hätte man gern mehr erfahren darüber, ob allein der ästhetischen Linie Chaillys, der nahen CD-Produktion oder doch aktueller (kultur-)politischer Ereignisse zu verdanken ist, was dem emotionalen Chailly die Galle überlaufen lässt und anzudrohen scheint, was im Jahr 2011 auf Leipzig zukommen wird: Geschützdonner.

Brillant, aber auch ein wenig selbstverliebt klingt Janina Fleischers Text über Georg Kreislers Buch "Anfänge. Eine literarische Vermutung". Ähnlich wie für Korfmacher der fehlende allerletzte Ton in Chaillys Interpretation Beethovens Neunte zu etwas Unabgeschlossenem macht, enden Kreislers Texte immer wieder mit einem Gedankenstrich. Daraus und aus den Reizen immer neuer Anfänge macht Fleischer geradezu eine Poetologie Kreislers - und den perfekten Text für die Neujahrsausgabe der lvz.

Michael Wallies berichtet über den nunmehr zehn Jahre dauernden Höhenflug des Leipziger Musiklabels Moon Harbour, die gleichzeitig ein Booking-Agentur ist. Das dem Deephouse zuzurechnende Label wurde in den letzten Jahren zunehmend internationaler, wofür auch die Erfahrungen aus den Bookings sprich Konzerten quer über die Kontinente gesorgt haben. Entscheidend für ihren Erfolg sehen die Partner Matthias Tanzmann (DJ und Produzent) & André Quaas (Booking, Orga, Finanzen) darin, die Fehler eines einseitig auf Kunst oder Management ausgerichteten Labels zu vermeiden. Noch zeigen sich durch den kommerziellen Erfolg keine künstlerischen Einbußen. Ob ca. 300 Veranstaltungen im Jahr und 50 Veröffentlichungen das Ende der Fahnenstange darstellen, wird sich also bald zeigen. Hat Moon Harbour eine Nische erobert oder gilt auch für sie das Marktgesetz "Fressen oder Gefressenwerden".

Zum xten Male werden in der lvz die jährlichen Bücher-Bestenlisten durchgekaut, auch Karolin Köcher findet keine wesentlich neuen Titel (Sarrazin, Franzen, Vargas Llosa) oder Trends. Immerhin benennt sie die auf konzertierte Vermarktung hin geplante Buchproduktion, die eine zeitgleiche Medieninszenierung der relevanten Titel und Autoren steuert und - es muss wohl noch einmal gesagt werden - die Konzentration der Verlage auf "potenzielle Bestseller". Weiterhin keine Lösung haben die Buchverlage augenscheinlich für die "Umstellung auf digitale Publikationsformen".

Das hoch verschuldete Bochum spendiert sich eine neue Konzerthalle. Antizyklisch denken ist wohl das Motto der Ruhrgebietsstadt. Man gönnt sich ja sonst nichts. Abgesehen von wohlfeilem Spott ist aber der dahinter durchscheinende Trend interessant: Bürger setzen sich immer stärker für eine Infrastruktur ein, die ihre Stadt lebenswert macht. Das 33-Mio-€-Projekt wird geplant trotz entsprechender Hallen in Essen oder Dortmund. Rolf Schraa schreibt, fast die Hälfte des Geldes, immerhin 14,3 Mio €, wäre von privater Seite (darunter Grönemeyer) gesammelt worden. Auch das NRW-Kulturministerium (und die EU) fördert das kommunale Anliegen für Bochums lokale Kultur. Aus Sparzwang angedachte Fusionen bilden eben noch längst keine lokale Identität. Städte brauchen Stätten, die von ihren Bürgern als ihre auch begriffen werden.

Das Bildermuseum Leipzig scheint auf gutem Wege dahin zu sein. Es meldet eine neue all-time-Bestmarke, einen Besucherrekord. Etwa 180.000 sollen es gewesen sein, fast 70.000 mehr als im Vorjahr. So weit so gut. Im Detail: Annähernd 100.000 Besucher zog die Neo-Rauch-Ausstellung an. Ohne sie wären also 80.000 Besucher in 2010 anstatt 110.000 wie in 2009 gekommen. Da die Ausstellung mit den zweitmeisten Besuchern in 2010 ("Nude Visions") nur ca. 20.000 zählte (mal ohne die Frage nach dem Inhalt aufzuwerfen), wäre wohl mit so gut wie jeder (!) anderen Ausstellung als mit Rauch die Besucherzahl gegenüber 2009 gesunken. Zurücklehnen sollte sich Hans-Werner Schmidt nicht.

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