Montag, 3. Januar 2011

lvz kultur vom 3.1.11: Dschungelcamp & Langhans, Märkl, Leonardo & Caravaggio

AngstLust ist ein bekanntes Phänomen. EkelLust spätestens seit dem rtl Dschungelcamp auch. "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" spielt seit Beginn aber auch mit der Lust an der Selbstverstümmelung. Otto Mühl, Hermann Nitsch, Chris Burden, Günter Brus oder Marina Abramovic stehen für Künstler, deren Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, dem Ekel und dem Schmerz immer extremere, auch lebensgefährliche Züge annahm, mit denen sie Gewaltverhältnisse deutlich machten, sich auf rituelle Kulthandlungen bezogen oder in den Extremerfahrungen auch kathartische Erfahrungen bei den Zuschauern auslösen wollten. Rainald Goetz machte 1983 seine Rasierklinge-schlitzt-Schädel-Lesung bei den Bachmann-Tagen in Klagenfurt zur performativen Erweiterung "toter Literatur". Hin zum wirklichen Leben, das blutet. Zum Beispiel. Insofern sind rtl, Dirk Bach und Sonja Zietlow Epigonen der Künstler hin zu einem Massengeschmack. Übrigens setzten von der Straße eingeladene Beteiligte an einer ihrer Kunstaktionen Marina Abramovic eine geladene Pistole an die Stirn und forderten sie auf abzudrücken. Ob dieses - aktiv aggressive - Publikum eine Wahlverwandtschaft mit den Dschungelcampzuschauern bildet, die immerhin Ekelaufgaben vergeben können, steht auf einem anderen Blatt. Rainer Langhans, einziger bisher feststehender Teilnehmer am Dschungelcamp, hat im Gegensatz dazu den potentiell persönlichkeitssteigernden Charakter der Sendung betont: "Genau genommen ist das Dschungelcamp die Urszene der Kommune - und unserer damaligen Bewegung. Es geht darum, in sich zu gehen, sich neu zu erfinden und zu entwickeln."
"Da sprach der alte Häuptling der Indianer, wild ist der Westen, schwer ist der Beruf. Uff."
Christina Zimmermann hat von diesem bewusstseinserweiternden Aspekt der Sendung offenkundig nicht so viel gehalten und schreibt in ihrem Vorbericht für die lvz kultur zur fünften Auflage der Live-Show, "In der rtl Show präsentieren sich die Möchtegern-Stars und Sternchen von ihrer natürlichsten, wohl aber auch würdelosesten Seite." Die Zuschauer auch: "Das Publikum will schließlich nur eines: Sie leiden sehen."

In ausgepresst erkennt Nina May den subversiv solidarischen Charakter der momentanen Schneekatastrophe, erkennt den wahren utopischen Gehalt von "Deutschland. Ein Wintermärchen" und fragt ganz lieb bei chefredakteur Bernd Hilder an, ob der nicht in den Büros der lvz die Heizung ausstellen lassen kann. "Das sorge für kuscheliges Kollegenmiteinander."

Mit zwei Dingen kann Peter Korfmacher nicht gut umgehen: Mit leidenschaftslosem orchestralem Präzisionsspiel und mit Veranstaltungen für Kinder. Da weiß er einfach nicht recht einzuschätzen, ob die lieben Kinderlein denn wirklich Spaß an der Freud haben (dürfen) während unser Peter vor lauter Qual von einer Arschbacke auf die andere rutscht. So wie jüngst bei der Zauberflöte im Centraltheater, bei der er heitere Miene zum bösen Spiel machen wollte(?). Beim mdr Neujahrskonzert unter Leitung von Jun Märkl läßt er zumindest durchscheinen, dass Kritik nicht nur an der Spielweise und der "unbändigen Freude" der Musiker und ihres Chefs Märkl am "virtuosen Fischen im flachen Wasser" angesagt sei, sondern auch, dass "dem langen Abend ein roter Faden" fehle, eine "Dramaturgie in der Kombination von Musik mit Tanz und Puppenspiel" ohnehin nicht zu erkennen sei. Und setzt eine kleine hämische Spitze darin, dass er der Veranstaltung für Kinder einen "außermusikalischen Mehrwert" unterstellt, nämlich, das "Funkorchester und sein Publikum wirklich wieder zueinander" zu führen. Hätte aber nicht so gut geklappt: Das Konzert sei vom "Befund ausverkauft noch ein gutes Stück entfernt."
Am Ende freut sich Korfmacher dafür auf Penderecki, der in der Reiheins des mdr am 15. Januar auftische. Eher seine Kragenweite.

Christoph Driessen nennt die angesagtesten Ausstellungen in 2011: "Das Kunst-Ereignis des kommenden Jahres" sei die Leonardo-da-Vinci-Ausstellung in Londons National Gallery, mit so gut wie allen Originalen, nur die Mona Lisa fehle. In Deutschland finde ebenfalls eine spektakuläre Renaissance-Ausstellung im Bode-Museum mit über 150 Porträts von da Messina bis Botticelli statt. Das Frankfurter Städel wartet zur Wiederöffnung mit "Beckmann und Amerika" auf, die Kunsthallen Hamburg und Bonn mit einer gemeinsamen Liebermann-Ausstellung. Wichtigste Ausstellung zu einem deutschen Künstler der Gegenwart sei eine Retrospektive zu Gerhard Richter in Londons Tate Modern, passenderweise zeigen auch das Bucerius Kunstforum und die Kunsthalle in Hamburg in 2011 zwei Ausstellungen zu Gerhard Richter.

Gerald Felber wiederum berichtet von der "Hommage an Caravaggio 1610/2010" in der Berliner Gemäldegalerie, in der vier Originalen des Dramatikers "des menschlichen Fleisches zwischen Rausch und Ekel, Himmelsekstase und Gosse, Kraft und Hinfälligkeit" eine Fülle von Nachfolgern, Epigonen und Widersachern zur Seite gestellt werden. Bei allen von Felber konzedierten Unterschieden träfen sich diese doch immer wieder darin, dass "sie sich am runzligen Verfall mürben Greisenfleisches delektierten." Ob da Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott bereits vorgezeichnet wurde?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen