Donnerstag, 27. Januar 2011

lvz kultur vom 27.1.11: Mit Golden 20ies gegen den Zerfall. Tukur. Berlusconi. Wolfram Lotz.

Mit den Rhythmus-Boys gegen den allgemeinen Zerfall. "Witz und Eleganz" gegen die "unerbittliche, hässliche Macht des Geldes" setzen und gleichzeitig zusehen, dass seine "Jungs" ein "bisschen was verdienen." Das will Sonnyboy Ulrich Tukur morgen im Gewandhaus, dem Beginn einer Tournee durch Mitteldeutschland. Im Gespräch mit Thomas Düll bewundert er die "Art und Weise, wie sich Menschen in den 20ern und 40ern selbst gesehen und stilisiert" haben, obwohl oder gerade weil die Zeiten hart und die politischen Umstände "grauenhaft" waren. Tukur selbst habe schon als Jugendlicher "immer nach einem Gegenentwurf" gesucht, heute stellt diesen die "großstädtisch-elegante Musik der ausgehenden 30er Jahre" mit ihrer Beschwingtheit und Noblesse dar. Auch wenn er und seine Rhythmus Boys nicht "die weltbesten Musiker" seien, spielten sie "inzwischen fast fast so gut wie sie aussehen." Man solle sich nicht so furchtbar wichtig nehmen, das "Wissen um die Endlichkeit des Spiels", des Lebens, hat Tukur "ein Quäntchen" Demut verliehen. Die Emotionalität und Grandezza des Lebens hat er nicht zuletzt an seinem "surrealen" Wohnsitz Venedig schätzen gelernt. das große Publikum kann Tukur dann demnächst in seinem zweiten "Tatort" begegnen, "hoffentlich couragierter und grotesker" als der erste.

In der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig ist unter dem Titel "Auslöser" eine Fotografie-Ausstellung mit Werken von 21 Künstlern, allesamt Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst, zu sehen. Kurator Meinhard Michael will in seiner Auswahl keine direkte Abbildung der Welt an die Kunsthallenwände hängen, sondern - im Gegenteil - "Möglichkeiten oder Scheitern beim Umgang mit der Realität" dokumentieren.Man solle über das Abbild "sinnieren", nicht das "schöne Bild" sei gefragt, sondern die konzeptuelle Herangehensweise. lvz redakteur Jens Kassner fand sie insbesondere bei Falk Messerschmidt. "Yet Another Suppe" sei das Foto eines abgedruckten Fotos, "das als Replik eines berühmten Gemäldes entstand." In dieser fast bruchlos an frühe romantische Konzepte erinnernde reflexive Herangehensweise findet seine Konsequenz in der "hohen Affinität zum Textlichen", die den Fotos anhaftet, und sich im Katalog wiederfindet. Wenn auch nicht im Erläuternden Sinne. Es sind Genre-Grenzen, die verletzt werden sollen, eines der "wichtigsten Werkzeuge der jungen Künstler." Moritz Frei nutzt dies so weitgehend, dass er nicht nur das Erklären verweigert, sondern gleich auch das Abbilden selbst. Er zeigt "schöne Rahmen mit leeren Passepartous", dazu die Frage: "Ist das die richtige Seite?"

Nicht nur Ulrich Tukur wird es warm ums Herz beim Gedanken an Stil und Befindlichkeiten der Italiener, auch Peter Korfmacher sehnt sich in seinem "ausgepresst" nach den Verniedlichungen der italienischen Seele. Aus einer Unordnung mache die ein Casino, die Verkleinerung als "Häuschen" beziehe sich aber nicht auf das Haus, sondern auf die darin herrschende Moral. Silvio Berlusconi, verniedlichend Regierungschef genannt, habe folglich in seiner kleinen Villa keinen Puff, wie man in Deutschland sagen würde, betrieben, sondern ein "Abendessen mit Unterhaltung" gegeben. Genausowenig, wie er aus seiner Mördergrube ein Herz machen konnte.
Um von seinen sinneslustigen Gedanken wieder herunterzukommen, hat Korfmacher dann den simplen Trick "kalte Dusche" angewandt. Versuchte krampfhaft an die deutsche Bundeskanzlerin zu denken. Und - als Steigerung - an Karaoke mit Berlusconi. An dieser Stelle brach kfms Text ab.

Fabian Bursteins Roman-Debüt "Statusmeldungen" fasziniert Janina Fleischer wohl wider Erwarten. Denn dieser Roman, der die Form digitaler Tagebücher und sozialer Netzwerke übernimmt, Kommentare und "Gefällt mir"-Statistiken abbildet, schafft es, trotz des Stichworthaften der Texte ein Beziehungs- und Lebenskrisendrama "nachvollziehbar zu erzählen". In seinem Coming-of-Age-Roman begleite der Autor seinen Ich-Erzähler Julian Kippendorf "aus mitfühlender Distanz." Und der Leser entwickle zunehmend Distanz zu seinen eigenen Kommunikationsmustern. Dem Persönlichen gegenüber und dem persönlichen Gegenüber. Und dem virtuellen.

Fatih Akin an Bernd "Muhammed" Eichinger: "Lieber Bernd, (...) Du warst der Größte. (...) Ich trauere um dich."

Hamburgs Kultursenator Reinhard Stuth möchte Karin Beier, amtierende Intendantin des Kölner Schauspiels ("Theater des Jahres"), für das Hamburger Schauspielhaus abwerben.

Nach den verquasten Äußerungen des Geschäftsführers des Hallenser Theaters, Rolf Stiskas (siehe gestrige lvz), wird die Oberbürgermeisterin der Stadt, Dagmar Szabados, deutlicher. Sie will ihr städtisches Kinder- und Jugendtheater Thalia Theater nun wohl doch schließen. "Es gibt ein breites und gutes Kulturangebot in Halle. Es wird auch weiterhin immer ein gutes Theaterangebot für Kinder geben - in welcher Art und Weise, das ist die Frage", sagte sie in der gestrigen Einwohnerfragestunde auf der Stadtratssitzung.

Kaum hat Autor und Dramatiker Wolfram Lotz zwei Auszeichnungen erhalten (Kleist-Förderpreis, Gewinner Stückemarkt), werden seine bislang als Ladenhüter geltenden Theatertexte immer gefragter. Im Gegensatz zu den postdramatischen "Textflächen"-Verfassern schreibe Loske bewusst an "Zumutungen" für den Regisseur, die den Text angeblich "unbrauchbar für eine Aufführung" machen sollen, zitiert Nina May aus Loskes "Bekenntnis zur Regieanweisung". Seine poetischen Regieanweisungen stellen Kommentare dar, die den Autor als ernstzunehmende Größe wieder im Theater etablieren möchten. Als jemand, der es nicht nur wert ist, als Gegenüber ernstgenommen zu werden, sondern schlau - oftmals rätselhaft bleibende - Reibeflächen für den Regisseur gleich in den Text hinein zu montieren, auf dass der Regisseur, sonst immer auf der Suche nach zusätzlichen Kicks außerhalb der eigentlichen, vom Autor geschriebenen Textebene, die Herausforderung wieder in ihm selbst findet. Es sei "eine Machtspiel". Der selbstbewusst gewordene Autor erobert sich Terrain zurück, das ihm in den letzten Jahrzehnten der Regisseur und "wahre Schöpfer" abgenommen habe. Centraltheater-Hartmann glaubt ja angeblich an die dritte der beiden Möglichkeiten, an die Macht des Schauspielers, der jenseits von Autor und Regisseur die Dominanz über die Aufführung erhalten solle.

In "szähne" singt Mark Daniel einige Strophen des Lobliedes auf das Tricksen. Jeder mache es, die städtischen Bühnen bei der Auslastung, die Stammtischler - sinnierend über den Bierdeckel - bei der Steuererklärung, die Stürmer bei der Strafraum-Schwalbe. Soll sich der lvz redakteur da ins Abseits stellen? Iwo. Wo Tukur alles ganz italienisch "nicht so wichtig nimmt" und Peter Korfmacher in ausgepresst noch mediterranes Kulturgut ausmacht, hobelt Daniel deutsche Späne. Denn wo wahre Kunst zählt, darf eine Stuhl-Verhüllung im Zuschauerraum nicht geistigen Korinthenkackern zum Opfer fallen. Und wo schon jedes Grundschulkind Hirndoping betreibt, wenn es nicht ohnehin bereits ritalinabhängig ist, braucht auch der redaktör, dem früher "nichts zu schwör" war, sein zeitgemäßes Wikidope. Und wir rauchen Friedenspfeife.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen