Mittwoch, 19. Januar 2011

lvz kultur vom 19.1.11: Esst kein E 621 - 625! Oldag. Voigtmann. Nickel

Nicht nur bei der Förderung von Kultur hat Leipzig gegenüber Dresden das Nachsehen. Auch bei der Innovationsförderung des Wissenschaftsministeriums hinkt Leipzig Dresden mit weitem Abstand hinterher. Dies ist laut lvz redakteur Ingolf Pleil nicht die Folge einer ungerechten Behandlung von Seiten der Landeshauptstadt, sondern der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur der beiden Großstädte geschuldet. In Dresden "technologieorientierte Wirtschaftszweige wie Maschinenbau und Halbleitertechnik", in Leipzig "Dienstleistungsunternehmen und forschungs-inaktive Produktionsstätten der Automobilindustrie". Nur Branchen wie in Dresden könnten entsprechende Förderungen beantragen, daher gebe es in Leipzig  mit 8,3 Mio € erheblich weniger Nachfrage nach Innovationsgeldern als in Dresden mit 61,6 Mio €. Dass Dresden irgendein Interesse daran hätte, das nach der Wende auch mittels EU-Geldern von ihr selbst geschaffene Ungleichgewicht zu verändern, auch, um eine gewisse Balance in Leipzigs Struktur zu schaffen, kann man nicht sagen. Im Gegenteil. Durch die bestehenden Förderstrukturen verfestigen sich diese Ungleichgewichte eher. Momentan hofft Leipzig auf die geplante Entwicklung des Elektro-BMW und wirft den Blick auch auf die Bereiche Gesundheit, Logistik, Energie- und Umwelttechnik. Wie in der Kultur erinnert dieses Verfahren allerdings an die Geschichte vom Hasen und dem Igel.

Der Dioxinskandal erreicht auch die Kultur. Janina Fleischer schreibt in ihrem Artikel über die Esskultur, besser, das Essverhalten der Deutschen, das den Skandal erst möglich mache. All dies ist 100.000mal gesagt worden. Deutschland kauft bequem, billig und fertig bei Discountern und Fast-Food-Ketten statt mit Nahrungsmitteln im Rohzustand wirklich zu kochen. Eine Mitschuld gibt Fleischer den Fernsehköchen, die wider besseren Wissens sogar für Instantprodukte werben (Lichter) oder Zusatzstoffe ins Essen mischen (z.B. bei der db). Aber auch Köche sind durch hohe Honorare korrumpierbar. Ebenfalls eine Mitschuld gibt Fleischer den Gesetzgebern in den Parlamenten, die die künstlichen oder gefälschten Nahrungsmittel sogar erlauben. Weit davon entfernt, so wie 1919 Fleischfabriken zu stürmen, die illegale und gesundheitsgefährdende Zustände praktizieren, schauen die Deutschen nur empört aus ihrer Fernsehecke in die Welt.
Janina Fleischer schließt ihren Artikel mit einer Pointe aus dem Programm der Academixer: "Fragt ein Ernährungsberater eine 100-Jährige: Wann haben Sie das letzte Mal über Ernährung nachgedacht? Ihre Antwort: 1945."

Nachdem sich Janina Fleischer erst einmal warmgeschrieben hat, nimmt sie sich nach Tomaten, Möhren und Kraut in der Glosse ausgepresst gleich das ganze englische Königshaus vor. Oder besser, das Publikum der kommenden Hochzeitsereignisse. Voller Entsetzen beschreibt sie die Horrorvorstellung, dass es zwischen Kate und William keine Märchenhochzeit geben werde, sondern eine "Demonstration des 'weniger ist mehr'."Es sei nicht einmal klar, ob K&W Prinz und Prinzessin sein werden/wollen und - anders als bei C&D - solle es keine Geschenke von Seiten der Hochzeitsgäste geben, die sollen lieber gemeinnützig spenden. Dafür, das machen die Briten allerdings unmißverständlich klar, zahlen sie nicht die horrend hohen Steuergelder an die Royals. Es ist wie in Deutschland mit den Gebühren der GEZ und den Kulturetats. Für sie könne man sehr wohl einen echten Gegenwert in Form von herrlich inszenierten Traumwelten, repräsentativem Glamour und barock aufgearbeiteten Geschichten in der Klatschpresse resp. den Fernsehzeitschriften erwarten.

Geras OBM und Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie GmbH Michael Wolf will Intendant Matthias Oldag möglichst rasch loswerden. Allen Ernstes glaubt er, bis Frühjahr 2011 einen geeigneten Nachfolger für den nur noch bis Sommer residierenden Intendanten zu finden. Leider schätzt er die Lage korrekt ein. Irgendeinen Dummen, der sich auf jeden magersüchtigen Theateretat einlässt, findet man immer. Ob das Theater dran krepiert, ist solange wurscht, wie die eigene Karriereleiter noch eine Sprosse hergibt.

Aus der Analyse, dass in und auf Deutschlands Bühnen die Bevölkerung mitsamt ihren Migrationsanteilen in keinster Weise abgebildet werde - in Ensemble wie in Stücken -, wurde in Berlin die Folgerung gezogen, ein Theater nur noch mit Migrationsthemen und -schauspielern zu unterhalten: Das Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße. So sehr Intendantin Shermin Langhoff auch Erfolg um Erfolg einheimst und damit den großen Nachholbedarf an Themen und Persönlichkeiten unter Beweis stellt, so eingeschränkt formuliert Kulturstaatssekretär André Schmitz anlässlich der Premiere von "Funk is not Dead": "Das ist ein großer Schatz, den wir hier zu heben haben." Und meint wohl das "Potenzial" an 800.000 brachliegenden Zuschauern nicht-deutscher Herkunft. Ihn interessiert weniger, dass eine sehr große Zahl von Menschen aus gesellschaftlichen Diskursen in Kunst, Kultur und Bildung ausgeschlossen sind, sondern die Währungseinheit des Ökonomischen: der Umsatz.

Mark Daniel attestiert dem Kabarett Academixer gute Absichten, mit dem neuen künstlerischen Leiter Frank Voigtmann für frischen Wind im Programm und jüngere Zuschauer zu sorgen. Das ist auch bitter nötig. Denn derzeit herrsche dort "künstlerische Stagnation" vor "alterndem Publikum". Man will sich ein Beispiel an Rainer Grebe nehmen, der in seinem Programm gesellschaftspolitische Phänomene statt Tagesaktualitäten beleuchte. Durch eine neue Offenheit an Formen (Theatersport) und etwa das Einführen von B-Premieren erhofft man sich neue Aufmerksamkeit. Auch Thorsten Giese und die Theaterturbine spielen ab sofort auf den Brettlbühnen, mal sehen, ob die inflationäre Ausbreitung von deren Bühnenpräsenz (Moritzbastei, naTo, Academixer) nicht auch eine gewisse Publikumsermüdung nach sich zieht, so groß ist das Leipziger Publikum möglicherweise auch nicht. Aber mit Phillip Schaller, schreibt Daniel, habe man immerhin einen "Spitzenautor" für das erste Programm in 2012 engagiert.

Über die Prozesskultur an Leipzigs Landgericht und das Verhalten des Richters Nickel im Verfahren gegen den früheren KWL-Chef Heininger ist schon viel gesagt worden. Staatsanwalt von Borries war anlässlich seines Plädoyers immer noch konsterniert über den Vorsitzenden Richter, der jeden Aufklärungswillen an den offen zu Tage liegenden Korruptionstatbeständen nicht nur vermissen ließ, sondern konsequent unterband. Dem Fass den Boden schlägt nun - wie Jens Rometsch berichtet - die Argumentation der Verteidiger Heiningers aus, die sich nicht nur darüber beschweren, dass Stadträte Leipzigs, das Heininger mit den abgeschlossenen Verträgen durchaus in den Bankrott führen kann, Appelle "an ein unabhängiges Gericht" sendeten, sondern auch darüber, dass von unabhängigen Prozessbeobachtern Strafanzeige gegen Richter Karsten Nickel erstattet wurde. Sofern das nicht nur Pfeifen im Walde ist, ist eine derartig kaltschnäuzigee Einschüchterung mit der dazugehörigen sublimen Beeinflussung einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstätigkeit mehr als dreist, es stellt geltende Rechtssicherheiten einfach in Frage.

Falk Elstermann möchte als Vertreter der Initiative Leipzig Plus Kultur dem Kulturdezernent Michael Faber noch den Gnadenschuss geben. So spät, wie sie schon mit der Leipziger Erklärung gegenüber der Novellierung des Kulturraumgesetzes reagiert haben, so spät wirft Elstermann nun laut einem Text von Ulrich Milde Faber vor, eine Kürzung der Gelder für die freie Szene in Höhe von 19% (850.000 €) zu planen,  indem er entgegen einem Stadtratsbeschluss keine Erhöhung der Zuschüsse um eben diese Summe vornehme. Ein verbindlicher Beschluss des Rates ist aber, dass bis zum Jahr 2013 eine Erhöhung der Fördersumme an die Freie Szene auf 5% der Kulturausgaben erfolgen soll. Wie hoch der Kulturetat 2013 sein wird, ist derzeit ungewiss.

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