Freitag, 14. Januar 2011

lvz kultur vom 14.1.11: Abstraf-Aktion für Judy Lybke. Lindenberg. Dschungel-Camp. Art Basel

Über 100.000 Karten im Vorverkauf, 35 Darsteller plus achtköpfige Band, mehr als 200 Mitarbeiter hinter den Kulissen. "Hinterm Horizont", das Udo Lindenberg-Musical - "Panical" schreibt Maja Zehrt - ist bereits zur Vorpremiere ein Seite 1-Thema für die lvz. Eine "massentaugliche ... East-West-Side-Story mit Hindernissen", angelehnt an Udos Song vom "Mädchen aus Ostberlin". Thomas Brussig als Autor und Udo Waller als Regisseur wollen neben der Love-Story auch die deutsche Nachkriegsgeschichte erzählen. "Erstaunlicherweise bringen die Macher alles unter einen Hut." Und damit meint Maja Zehrt nicht allein Lindenbergs Markenzeichen, den Hut, den der Ausstatter als 9m breites Bühnenrequisit an Stahlseile gehängt hat. Josephine Busch als Pankow-Mädchen Jessy "ist ne Wucht", Serkan Kaya als Udo-Darsteller "nuschelt und tänzelt sich manchmal eher schlecht als recht durch die Szenen." Lindenberg fasst die mit Unmengen seiner Hits garnierte Story so zusammen: "Ich ging da rüber, ich wollte mal ein bisschen gucken, verlieb mich in das Mädchen, dann steht ne scheiß Mauer da, ich sag: Weg mit dem Schrott!" Die Geschichte sei selbstverständlich "stark konstruiert" (Andreas Rabenstein), die von Lindenberg versprochene "richtige Straßenmusik" gebe es sicher nicht zu hören, doch immerhin seien "liebevoll gestaltete Details" und wider Erwarten immer wieder stattfindende "leise Töne" echte Pluspunkte. Maja Zehrt vermutet, so mancher Zuschauer dürfte "leicht nasse Augen kriegen", Andreas Rabenstein freut sich am "freundlich-satirisch illustrierten Leben in der DDR." Privates und Politisches wird zur fröhlichen Unterhaltungsware, Stage Entertainment hält die Fäden zusammen.

Über ein weiteres "Feuchtgebiet der Unterhaltung", das RTL-Dschungelcamp und die Show "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!", schreibt Jürgen Kleindienst einen richtig guten Leitartikel. Der lvz redakteur kommt darin zu dem Schluss, dass "auch dank des Privatfernsehens", das die Welt "bevorzugt" durch das Schlüsselloch wahrnehme, "sowohl Privates als auch Politisches weitgehend abgeschafft" seien. "Der Big-Brother-Kosmos" sei insofern "eine Art Kommune 2.0", was Kleindienst angesichts der Teilnahme von Kommune 1-Mitglied Rainer Langhans als "tragische Pointe" deutet - mit Langhans als "Maskottchen intellektuellen Niedergangs." Während sich die Konturen auflösen, Kategorien ineinanderfließen, sieht Kleindienst witzigerweise nur zwei Möglichkeiten als Reaktion: "Moralische Entrüstung oder Humor".
Nun sind diese Art kulturpessimistische Auslassungen ein ganz natürlicher Reflex angesichts des Schrotts, von dem wir dennoch die Augen und Ohren nicht abwenden können. Vielleicht sollte man statt dieses Lamentos lieber die Infiltration unseres Lebens durch andere kulturelle Produkte oder Lebensweisen, diesen Schwebezustand jenseits der festen Weltanschauungen, mit einer Mischung aus Heiterkeit, Ernst und Reflexion annehmen oder unterstützen, wo auch immer wir ihn bemerken.
Janina Fleischers Sache auf der lvz kulturseite ist das nicht, sie sieht auf beiden Seiten der Mattscheibe nur Zynismus und wachsende Schadenfreude am Werke. Diese, im Grunde sich vor lauter schlechtem Gewissen selbst geißelnde Haltung ("ablehnen wollen, aber nicht abschalten können"), muss nicht sein. Vielleicht ist es ja möglich, ähnlich einem Forscher, der die Dinge mit wachem Verstand und wachen Sinnen anschaut, oder einem Künstler, der die Dinge durch sich hindurchfließen lässt, um sie verändert wieder auszuscheiden, zu reagieren. Und bei nächster Gelegenheit ähnliche Sendungen doch links liegen lässt.

Die Berlin-Leipziger Galerie Eigen + Art ist vorausichtlich nicht auf der wichtigen Kunstmesse Art Basel vertreten. Galerist Gerd Harry Lybke versucht, in einem Gespräch mit Peter Korfmacher Haltung zu wahren, schreibt diese Entscheidung einem "Mangel an Professionalität" zu und lässt die Hoffnung gleichwohl nicht fahren. Die Entscheidung zu vertreten haben sechs Jurymitglieder, die über die Teilnahme oder Nichtteilnahme entscheiden. Da drei der sechs Jury-Mitglieder Berliner Galeristen seien, die zudem selbst auf der Art Basel präsent sind, deutet Lybke die Entscheidung eher vorsichtig als getränkt durch "Konkurrenz und persönliche Befindlichkeiten". Er bedauert, dass wichtige Künstler, die sich ja nicht anderswo vertreten lassen, damit von entscheidenden Diskursen abgekoppelt werden.
Auf der online-Seite des Art-Magazins wird Gerd Harry Lybke deutlicher. Er vermutet eine "Abstrafaktion missgünstiger Kollegen". In Amerika würde man das "als Diskriminierung oder Rassismus bezeichnen" - angesichts seiner ostdeutschen Herkunft.

Mit einer neu geordneten Dauerausstellung wartet das Lessingmuseum Kamenz auf, eine der 20 "kulturellen Gedächtnisorte im Osten Deutschlands". So seien einige Neubewertungen vorgenommen worden, darunter einer Italienreise Lessings, u.a. nach Livorno. Dort habe es in friedlicher Koexistenz Synagogen, Moscheen und Kirchen gegeben. Möglicherweise eine Initialzündung für den "Nathan", schreibt Jörg Schurig.
Ai Weiwei hat es kommen sehen, den Abriss seines 2000m² großen Ateliers in Shanghai. Der Künstler glaubt an eine Strafaktion für seine politischen Aktivitäten. Er sei traurig, dass das starke China "keine Kritik vertragen" könne.
Der Leiter der Schaubühne Lindenfels, René Reinhardt, möchte mit Kooperationen mit anderen Kultureinrichtungen wie dem Westflügel, Gewandhaus, Oper und Uni Leipzig neue Stärke entwickeln. Allein durch eine geplante Zusammenarbeit mit dem Lindenfels Westflügel rechnet er mit höheren Fördergeldern von 22.000 Euro. Die Schaubühne, die vor einigen Jahren stolz auf 50.000 Besucher jährlich verweisen konnte, freut sich zur Zeit über die Steigerung von 27.000 (in 2009) auf 29.000 Besucher (in 2010), wie Verena Lutter berichtet.
Die Diskussion über das Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig geht weiter. Florian Ibrügger schreibt, Stadträte unterschiedlicher Fraktionen seien enttäuscht von dem eindeutigen Votum (contra Denkmal), das über die Telefone der lvz ausgedrückt wurde. Wie weit die politische Klasse nicht nur in Berlin weg ist von den Meinungen der Menschen vor Ort, beweist Bettina Kudla, ehemalige Finanzdezernentin Leipzigs und nun CDU-MdB, wenn sie pro Denkmal darauf verweist, dass der Region "sowohl ein touristischer Anziehungspunkt als auch Bauaufträge in Millionenhöhe entgehen würden", sollte das Denkmal nicht gebaut werden. Rein ökonomische Argumente können aber niemals die durchaus widersprüchlichen Empfindungen Leipziger Bürger ausdrücken, die bei dem Thema des Freiheitsdenkmals anlässlich 1989 angesprochen werden.

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