Freitag, 18. Februar 2011

lvz kultur vom 19.2.11: Fehlanzeige zum 2ten

Da der Februar bekanntlich der schönste Urlaubsmonat ist, habe ich mich entschlossen, für den Rest des Monats ein paar freie Tage einzulegen, meine Vorfahren in Griechenland zu besuchen und den Flüchtlingen in Patras die Zeit n bisschen mit Maumau zu vertreiben.
athene

Donnerstag, 17. Februar 2011

lvz kultur vom 18.2.11: Fehlanzeige

Da der Februar bekanntlich der schönste Urlaubsmonat ist, habe ich mich entschlossen, für den Rest des Monats ein paar freie Tage einzulegen, meine Vorfahren in Griechenland zu besuchen und den Flüchtlingen in Patras die Zeit n bisschen mit Maumau zu vertreiben.
athene

lvz kultur vom 17.2.11: Kinderkreuzzüge und Lesedünen. Abigail Jaye. Erich Loest. Berlinale

Evita ist schon wieder auferstanden. Bob Tomson und Bill Kenwright haben 2008 mit Abigail Jaye als Titelheldin eine Neuinszenierung unternommen. Dienstagabend feierte es Leipzigpremiere. Stimmlich stark und vielseitig und Kampfesalust verströmend – das ist Jaye, die eine Frau verkörpert, deren Ehrgeiz und Machtstreben so kalkuliert wie kühl wirkt, und dennoch als Ikone der fürsorglichen Wohltäterin gilt. Der angedeutete Heiligenschein durch einen einzelnen Scheinwerfer zeigt, wie sehr das Kalkül doppelt inszeniert ist: Im Leben wie im Musical. So nacherzählend, wie Insa van den Bug das Musical verhandelt, so kritiklos scheint das Musical diese Tatsache unter den Tisch kehren wollen.

Loest hat keinen neuen Roman sondern ein Tagebuch der vergangenen zwei Jahre veröffentlicht. In Ermangelung schriftstellerischer Konzentration traut sich der 85-jährige Erich Loest kurze gedanklichen Bögen, wie sie das Tagebuch erfordert, noch zu, kokett bezeichnet er das Buch allerdings als „Letztbuch“. Unwesentliche Anekdoten sind darin von Thomas Mayer ebenso versammelt wie die Tatsache, dass auch Loest 1944 noch Parteimitglied der NSDAP geworden ist. Milde in der Abrechnung sei geworden, kann sogar Kulturdezernent Faber noch etwas abgewinnen, und wenn es das Benimm einer Verabschiedung geht, bleibt athene. Umständliche Strukturveränderungen sind seine Sache nicht. Langweilige Filme gab es schon vorher.

Victor und Rudi who? Ein weiteres Mal ist auf der Berlinale ein Nazifilm geglückt, der bewusst auf dem Grenzgängertum zwischen Komik und Ernst balanciert – gekonnt. Anlässlich einer Michelangelo-Zeichnung, die dem einen Freund aus einem Museum hervorgeholt werden soll, reagiert das Berlinale-Publikum begeistert. Als kürzeste Distanz zweier Punkte nennt es den Mail? Den Rückweg? Der Rest dieser „Berlinale der miserablen Filme“ ist Schweigen. Seyfi Teomans „Our Grand Despair“ ist Kino für Gutmütige, langweilt, Rodrigo Morenos „Rätselhafte Welt“ ist langatmig und verquast.

Nach Agnes Kraus wird mit Herbert Köfer schnell noch ein weiterer „Volksschauspieler“ bejubelt, weil er 90 geworden ist. Auch ne Leistung. Für Statistiker: Er hat die erste und die letzte Sendung des DDR-Fernsehens moderiert, wie Jörg Schurig schreibt.

Der erste Superman, der „das Phantom“ hieß, war eine attraktive Mischung von Genres, i.e. Mystery- und Dschungelabenteuer. Künstlerisch habe heute in Deutschland die Comic mächtig aufgeholt. Was früher die Brüder Grimm mit ihren faszinierenden, gruseligen und mitunter grausamen Geschichten waren, sind heute oft die Comic. Selbst wissenschaftlich und ethisch zumeist on top. Chris Melzer hat sich für die lvz richtig warmgelesen.

Die Amerikanerin Debra Pearlman und der Leipziger Jürgen Raiber haben in Leipzigs Westen, das neuerdings auf Straßenschildern als Westkultur firmiert, zwei Ausstellungen eröffnet: Im Delikatessenhaus und in der Galerie Hoch & Partner. Während die Amerikanerin sich dem Thema der Kreuzzüge und insbesondere der Kinderkreuzzüge widmete, geht Jürgen Raiber „geradezu energisch gegen seinen eigenen Körper vor“, schreibt Meinhard Michael. Ihm gehe es um den menschlichen Korpus und seine Verletzlichkeit.

Eine witzige Leseperformance unter dem Titel Lesedüne fand in der Moritzbastei statt. Helden der zweieinhalbstündigen, „unglaublichen“ Stunden waren es, die witzig und poetisch, politisch und intellektuell einen Streifen nehmen können.

Mittwoch, 16. Februar 2011

Lvz kultur vom 16.2.11: Kerouacs „On the Road“ again. Jamel. Chailly. Globish.

Niemand weiß, wann die Neonaziszene auf dem Laufsteg der Medien Aufmerksamkeit erhält und wann nicht. Jetzt ist mal wieder die neue Kollektion einer rechten Geschichte im Umlauf. Nach Spiegel, ap, indymedia, und Stern hat sie auch Marcus Stöcklin für die lvz aufgegriffen. Immerhin: Die lvz bringt ein Porträt eines Dorfes in Meck-Pomm: Jamel. Fast glaubte man, der Name wäre der ihrer eigenen ägyptischen Partnerstadt. Doch er ist er selbst. Die erschreckende Geschichte: In Jamel entsteht Schritt für Schritt eine rechte Enklave. Haus für Haus werden von Rechten übernommen, bald ist niemand mehr da, der nicht der Neonaziszene angehört. Die Methoden sind brutal, gebrochene Nasenbeine, am Gartenzaun aufgespießte Hühner, tote Ratten im Briefkasten, patrouillierende Pick-Ups mit Scheinwerfern auf dem Dach entlang der Dorfstraße machen Jagd auf die paar verbliebenen Bürger. Dass ein ganzes Dorf weggemobbt werden kann, ist neu. Aber vielleicht wächst auch nur zusammen, was zusammengehört. Die neu hinzugezogenen Rechten und die Resignation der Arbeitslosen im Ort, ein aus Steuergeldern finanziertes Wahlkreisbüro der NPD und das, was man andernorts als Strukturschwäche bezeichnet: Die verkümmerten Reste eines staatlichen Gemeinwesens, eines auch ohne Braunkohleabbau oder Truppenübungsgelände einfach verlassenen Ortes. Ohne Überlebensperspektive. Wenn da nicht die jungen (oder alten) Rechten wären. Ob in Naschendorf, in Gägelow oder sonstwo – Jamel ist nicht allein.
Birthdayparty in der lvz: diesmal ists Agnes Kraus, Volksschauspielerin mit Charme, Chuzpe und Charakter, die heute 100 Jahre alt geworden wäre. An den Theatern hatte sie keinen Erfolg.Erst das Fernsehen der 70er Jahre entdeckte in der herben Mütterlichen die begnadete Alltags-Komödiantin. Ende der 80er Jahre zog sie sich zurück, vor 15 Jahren starb Agnes Kraus.
Riccardo Chailly stellte die Pläne des Gewandhauses 2011/12 vor. Benedikt Leßmann berichtet von acht Symphonien Beethovens in zwei Wochen, plus der Neunten zu Silvester. Jeweils kombiniert mit einer Neukomposition mit Rückbezug auf eine Beethoven-Symphonie. Was für Leßmann nur mäßig originell ist, dennoch, er erwartet dadurch eine Heranführung des Publikums an die Moderne, von der es bisher beharrlich wenig hält. Auch in der Repertoirepflege soll die gemäßigte Moderne ihren Platz haben: Riehm, Strawinsky, Berg, Schnittke und Saariaho sind einige Namen. Als Dirigenten werden neben Blomstedt und Masur auch Thielemann, Schirmer und Biller genannt. Was im Programm die Rückkoppelung des Neuen ans Alte darstellt, ist bei den Namen die Beruhigungspille des Alten bei der Präsentation des Neuen. Klingt alles in allem zu mutlos.
Jürgen Kleindienst beteiligt sich in „ausgepresst“ an der Nachfolgediskussion für Thomas Gottschalk. Nachdem Kulenkampff und Alexander ausgeschieden sind, bleiben nur die ewigen Kandidaten Pilawa, Kerkeling, Opdenhövel und Müller. Müller? „Selbstverständlich Zählkandidaten“, wie jkl meint. Nachdem er lange genug in Vorzimmern, Kantinen und Hallenser Messehallen zugebracht hat, kennt er nun die zwei aussichtsreichsten Kandidaten: Ein Moderatorencasting, selbstverständlich mit Raab, der aber nur Lena zulassen will. Und Maffay. Natürlich! Der kennt als Stammgast bereits Laufwege, Kantinenpersonal und Hunziker. Wer Maffay kennt, weiß, dass er zu radikalen Imagewechseln neigt: Wetten dass übernimmt er nur, wenn – von seiner Finca auf Malle gesendet wird.
Ein bisschen Spiegelfechterei wird derweil in Radebeul, dem Stammsitz der gefährdeten Landesbühnen Sachsen betrieben. Die Stadt erwartet Klarheit über die künftige Struktur der Bühnen. Soll heißen, wie häufig solle sie noch in Radebeul selbst spielen dürfen. Davon will OBM Wendsche abhängig machen, ob die Stadt die vom Land erpresste Summe von zunächst 300.000 Euro, später (2012) 600.000 Euro, zahlen will. Ob sie es kann, steht ohnehin auf einem anderen Blatt. Aber so sehen Opfer aus.
Jetzt ist sie tatsächlich auch auf Deutsch erschienen: Die unredigierte Originalfassung von Jack Kerouacs Roman „On the Road“. Nachdem bereits mit dem Comic „The Beats“ erste Tendenzen einer „Kindertauglichkeit“, einer Verharmlosung dieses Symbols für einen nicht nur literarischen Aufbruch des jungen „aufregenden, sympathischen“ Amerika einsetzten, ist die ungeglättete Version der Urfassung eine Rückkehr zur Radikalität der ursprünglichen, ruhelosen Suche nach sich selbst, wenn man Roland Mischkes Text folgt. Eines gelebten Traums, der auch den Alptraum mit umfasste, Grenzen ignorierte. Es ging nicht nur um das Coming-Out eines Schwulen, sondern um das Coming-Out einer ungebändigten Seele.
Noch in diesem Jahr soll es eine Verfilmung von „On the Road“ geben.

Norbert Wehrstedt hat auf der Berlinale endlich den ersten Favoriten für den Goldenen Bären erlebt: „Nader und Simin, eine Trennung“ von Asghar Farhadi (Iran). „Ein Drama um brüchige Moral und gestörte Beziehungen, Wahrheit und Lüge, mit vielen überraschenden Wendungen, psychologisch sehr behutsam und sozial sehr genau erzählt. Der Innen-Blick auf eine in Schichten gespaltene iranische Gesellschaft.“ Zwei weitere Filme wurden – wie Wehrstedt traurig feststellt – „von Herrn Langweiler (Béla Tarr) und Frau Peinlichkeit (Miranda July)“ inszeniert.

Maja Zehrt hat ein ein Festival im Festival beobachtet: Das Kinderfilmfestival „Generation“ im Rahmen der Berlinale. Arthouse für Vierjährige, ohne Berührungsängste. Themen wie Krieg in Iran, Terror in Peru, Superhelden, erste Liebe und Straßenkinder in Südafrika werden angeschnitten, auch eine filmpädagogisch betreute Vorstellung von Ingmar Bergmanns „Fanny und Alexander“ gezeigt. Zehrt beeindruckt: „Früh übt sich, wer ein echter Filmnarr werden will.“

Abermals Roland Mischke berichtet über das Phänomen des Globish. Einer radikal redizierten Variante der englischen Sprache. Die ohne Drumrum, fast ohne Grammatik auskommt. In Ägypten hat sich die Jugend überraschend als Globish-sprachige Generation entpuppt. „Mubarak must go!“ und „We want a democratic constitution“ sind Beispiele für das zur Einfachheit gewandelte Englisch. Auch typische Mail-Kürzel gehören zum Globish: „n1“ etwa steht für „nice one“, soll heißen „gut gemacht“. Mischke: „Globish hat die Welt erobert. Friedlich, aber in Befreiungskämpfen überdeutlich. Globish organisiert Menschenmassen.

Dienstag, 15. Februar 2011

lvz kultur vom 15.2.11: Augen zu und lächeln. Alfred Brendel. Grammys. Belafonte.

Alfred Brendels Finger laufen nicht mehr über die Tasten des Konzertflügels, sie blättern in den Seiten eines Buches. „Seines Buches“, wie Charlotte Schrimpf in ihrem Artikel schreibt. Und wie sie es schreibt. Mit federleichten Bemerkungen und rhythmisch fließenden Satzmelodien, die fast an Brendels seinerzeitige Töne auf dem Klavier erinnern. Leider betreibt die Schrimpf mit ihren feuilletonistischen Phrasen mitunter auch Etikettenschwindel. Denn was Brendels Part betrifft, bleibt es tatsächlich beim Etikett. Zum Inhalt der Texte, die er vorträgt, nur soviel, dass man kaum etwas wirklich verstehen kann. Was bedeutet es denn, wenn darüber „gekichert wird“, dass Brendel erzähle, „wie Mozart von Beethoven ermordet worden“ sei, „weil Beethoven ein Neger war und Mozart davon gewusst hat.“ Ob man dies als feine Ironie des „Überpianisten und Malers, des Essayisten, Dichters und Komponisten“ begreifen solle, bleibt ungewiss. Auch von Brendels Geschichte über „über das Gegenteil des Gegenteils“erfährt der Leser nicht mehr als den Titel. Dafür hat das Szymanowski-Quartett so lange phantastisch gespielt, bis Alfred Brendel die Augen schließt und lächelt.

Die diesjährige Grammy-Vergabe war wieder berüchtigt unkalkulierbar. Ein Country-Trio gewann für ihren Song „Need You Now“ fünf Grammys (darunter bester Song: Lady Antebellum), Lady Gaga („u.a. Brecht erhielt drei, Eminem konnte mit zwei Grammys fast schon zufrieden sein. Dabei hatte er sich um 10 Grammys beworben. In Wirklichkeit war es für ihn ein Schock, nur zweimal im Winterprogramm ausgewählt worden zu sein. Immerhin ein Grammy, der der für klassische Musik, geht nach Berlin.

Norbert Wehrstedt holt auf der diesjährigen Berlinale sein Schlafdefizit auf. So langweilig wie heuer waren Filme selten. „Coriolanus“ schafft es, die Geschichte um den römischen Feldherrn so unfreiwillig komisch zu gestalten, dass es den Filmkritiker der lvz tatsächlich an verfilmtes Theater erinnert. „Bisschen wenig“, findet er. Alexander Mindadzes Film „An einem Sonnabend!“, der sich um den Tag dreht, an dem Tschernobyl in die Luft fliegt, „trat 99 Minuten lang vor allem auf der Stzelle.“ Der Französische Beitrag „Die Frauen aus der 6. Etage“hat Wehrstedt mehr überzeugt: „Endlich mal wieder richtiges Kino.“ Diesmal nicht „außer Konkurrenz“ lief ein „amüsanter und unterhaltsamer“ Film namens „Letzte Etage links“. Eine soziale Lehrgeschichte ist das, „sehr handfest. Sehr humorvoll.“ Chen Kaige, „Meister des chinesischen Filmopus“ malt in „Sacrifice“ „wieder prächtige Bilder“, bei der Kostümprozedur helfen dessen „erstklassigen Kampfchoreographien.“.

Maja Zehrt hat auf der Berlinale eine Doku über Harry Belafonte gesehen, doch der will bei dem Filmprojekt „über Armut und Rassismus“ hurtig noch manche Leute nach Leipzig karren. Eine Erzählrunde macht deutlich, wie lange Harry Belafonte sich bereits als Sänger, Tänzer und Menschenrechtsaktivist politisch einmischt. Er marschierte mit Martin Luther Kings nach Washington und besorgte John F. Kennedy Stimmen der Schwarzen. Auch heute mischt sich Harry ein, beeinflusst Barack Obama und fängt an, sich zu schagen.

Eine angekündigte Ausstellung Ai WeiWeis wurde vom Künstler abgesagt, nachdem ihm von Seiten der chinesischen Zensur mitgeteilt wurde, dass sie im vorgesehenen Zeitraum im März wegen „der laufenden Jahrestagung des Volkskongresses“ nicht abgehalten werden könne. Daraufhin sagte Ai Weiwei die Schau gleich ab. „Es ist sinnlos“, meint der Regimekritiker.

Rainald Grebe erobert nach dem Centraltheater nun auch das Gewandhaus. Allerdings finden sich sogar manche Songs seiner Produktion „WildeWeiteWeltSchau“ im Gewandhaus wieder. Seine etwas hektische Überfülle an Ideen ist dabei nicht mal allen Recht. Jürgen Kleindienst schreibt von der Verwirrung, die „aus der Überfülle seiner neuen Ideen“ resultierten. „Langjährige Grebe-Fans werden angesichts eines solche zirzensischen Klimbims nostalgisch. Theatralische und musikalische Erweiterung haben Intensität, Poesie und Schärfe nicht immer gutgetan.“ Kleindienst schließt mit der Bemerkung: „'Es ist gut', heißt das Schlüssellied nach drei ereignisreichen Stunden inklusive Pause. Es ist ein älterer, intimer Titel, und er ist wirklich gut.“

Einen Comic-Kurs für Erwachsene bietet in den Winterferien die Galerie für zeitgenössische Kunst. Anregungen holen sich die Teilnehmer bei der diesjährigen Sammlungs-Ausstellung Puzzle.

Elfriede Jelineks Stück „Rechnitz“ über ein Nazi-Massaker an 180 Juden wurde in einer Inszenierung der Münchner Kammerspiele in Israel aufgeführt.Erschütterung, Gänsehaut und Atemlosigkeit registrierte Hannes Vollmuthz im Zuschauerraum, „viele Sätze überschreiten fast die Grenze des Erträglichen.“

In einer Presseschau zu „Pension Schöller“ am Centraltheater und „Deutsches Miserere“ von Brecht/Dessau an der Oper Leipzig sammeln Nina May und nvm Besprechungen überregionaler Zeitungen. Während „Pension Schöller“ von der Chemnitzer Freien Presse nur in der zweiten Hälfte die „Abgründigkeiten, Szenen von funkelndem Witz und inspiriertes selbstreflexives Theatermachertheater“ erkennen ließ, während die MZ die Leipziger Fassung mit des Hallenser Neuen Theaters verglich. Es erscheine zwar viel zu groß, aber sei zuallererst „burleskes, intelligentes Spiel“.Die Frankfurter Rundschau zeigte sich begeistert, nachtkritik.de ebenfalls.

Das Deutsche Miserere kommt nich so gut weg. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung fand das Stück gleich „unfassbar“ und „entsetzlich“ und postuliert: „Nie wieder nach Leipzig.“
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete es als „verantwortungslos“ und „wohlfeiles Empörungstheater“. Der Tagesspiegel hatte Dietrich Hilsdorf, den „Virtuosen der differenzierten Personenregie“, bei dessen Ausbau zur „expressionistischen Revue“ auf der Bühne zugesehen.

Montag, 14. Februar 2011

Lvz kultur vom 14.2.11: So kompromisslos muss Theater sein. Alexander. Wenders. Hilsdorf.

Seit Peter Alexander 1947 in London Frank Sinatra erlebte, war für den jungen Schauspielschüler am Max-Reinhardt-Seminar klar, was er wollte: Spielen und singen in einer eigenen Mischung aus Charme und Schüchternheit – so wie sein großes Vorbild. Das ist dem Schauspieler, Sänger und Showmaster in mehr als 45 Jahren Bühnenkarriere gelungen. Jürgen Kleindienst schreibt anlässlich des Todes des 84-Jährigen ohne Überheblichkeit gegenüber dem Superstar des „TV-Biedermeier“: „Mit Wiener Schmäh und Lausbubencharme eroberte er die Herzen von Generationen.“ Das Publikum betrachtete ihn als „einen von ihnen“. Kleindienst resümiert: „Die neue Fernsehwelt war nicht mehr seine. Das Fernsehen, sagte Alexander, sei 'so brutal, ordinär und billig geworden. In wenigen Jahren sind so ziemlich alle Tabus gefallen, und er gute Geschmack ist auf der Strecke geblieben.' Auch für diesen Satz sagen wir: Dankeschön!“

Die Berlinale geht enttäuschend weiter. Norbert Wehrstedt, an dem bereits zuletzt die Neigung zum Einschlafen bemerkt wurde, gibt nun zu: Nicht nur bei dem Entwicklungshilfedrama namens „Schlafkrankheit“ (Regie: Ulrich Köhler) wurde aus dem nomen ein omen. Auch Wim Wenders lang erwarteter Tanzfilm, die Hommage „Pina“, war alles andere als aufregend: „Gefühlte Länge: 25 Stunden“. Für Wehrstedt bereits die zweite „Nullnummer“ nach „Palermo Shooting“. Bei Wenders angekündigtem nächsten Film, einem Thriller, spürt Wehrstedt bereits „vorher schon ein gewisses Grausen.“ Endgültig eingeschlafen sei er beim „Brillentag“, dem Tag der 3D-Filme. Michael Ocelots „Tales of the Night“ begann bereits vergleichsweise altbacken („altes Kino“, „noch ältere Legenden“), die Spannungslosigkeit steigerte sich allerdings bis zum Eingeständnis: „dann bin ich, tut mir leid, vor lauter Spannung entschlummert.“ Ein einziges Gegenbeispiel im vorgeblichen A-Festival, das sich zunehmend als C-Festival entpuppt: Yasemin Samderells „Almanya – Willkommen in Deutschland“. Der allerdings läuft „außer Konkurrenz“ im Wettbewerb. Bisher dachte man, nur man selbst habe keine Ahnung von den Usancen des Wettbewerbs. Aber auch Wehrstedt gab zu: „Eine Kategorie, die kein Mensch versteht.“ Den peinlichen Höhepunkt („ganz fettes Sozialbrot“) brachte Victoria Mahoneys „Yelling to the Sky“, die „hölzerne Karikatur eines Sozialdramas“.

In „ausgepresst“ wundert sich Janina Fleischer über eine Auftragsumfrage der „Apotheken-Umschau“ zum Fremd-Flirten. Einen unmittelbaren Zusammenhang zu umsatzträchtigen Medikamenten konnte die lvz redakteurin nicht erkennen. Vielleicht muss ja das werbliche Umfeld der Umfrage näher betrachtet werden? Immerhin 25% der Frauen sahen das Fremd-Flirten“ ihres Partners als Belästigung. Dank aufopferungsvoller Mithilfe des Blumenhandels und der Pralinenindustrie wird diesem Trend wenigsten heute ein „Ruhetag“ verpasst: der Valentinstag für den „heimischen“ Partner. Wem der Sinn nicht so nach Blumen und Mon Cherie steht, könne ja immer noch in der Apotheke shoppen gehen.

Laut Wikipedia ist das Wort „Miserere“ dem Anfangsvers des 51. Psalms entnommen, dem heute als Bußgebet liturgische Bedeutung zukommt, außerdem ist es auch der medizinische Terminus für „Koterbrechen“. Das „Deutsche Miserere“ von Bertolt Brecht und Paul Dessau (Musik), das an der Leipziger Oper am Wochenende erstmals als Theatertext Premiere feierte, war laut lvz redakteur Peter Korfmacher ein „düsterer Abend, beklemmend, verstörend, gewalttätig.“ Ursprünglich konzipiert, den Deutschen nach dem Krieg Hilfe zu geben „beim Verstehen, Verarbeiten des Unvorstellbaren“, läßt Regisseur Dietrich Hilsdorf die einfache Botschaft des Werks, „Krieg tötet. Sonst nichts“, weniger mit Blick in die Vergangenheit, sondern durchaus auf die Gegenwart des Afghanistan-Krieges bezogen enden. Auch wenn Korfmacher von einer „wenig subtilen, plakativen Agit-Prop-Überdeutlichkeit“ spricht, schreibt er selbst, dass im Orchester „das weitaus beklemmendere Leise überwiegt“. Selbst das „Paradoxon“ eines „Kammerspiel für Chor“ sei gelungen. Die Bilder allerdings, die Hilsdorf über die Auswirkungen es Krieges zeigt, seien „sehr drastisch, so drastisch, dass man die Altersbeschränkung ab 16 ernst nehmen sollte.“ Insbesondere die Figur der „bleichen Mutter“, dargestellt von Gabi Dauerhauer, die nach „erotischem Tänzchen mit dem großen Führer“ später „nackt und geschändet“ am Boden liegt, geht „unmittelbar an die Nieren“. Doch nicht nur sie überzeugt. Neben anderen Solisten sind es insbesondere die beiden Chöre (Chor und Kinderchor), die Korfmacher hervorhebt. Auch der „emotionalen Wucht“ des Gewandhausorchesters und Leitung von Alejo Pérez könne man sich „kaum entziehen“. Die Inszenierung „geht an die Substanz, löst bei manchem im Saal erkennbar Abscheu aus“. Am Ende trotzdem kaum Buhs, überwiegend Applaus. Und: „So kompromisslos hat in der Oper lange keine Produktion mehr gezeigt, was Theater leisten kann – auch muss.“

Im Gewandhaus wurde zum 40. Todestag des Komponisten und langjährigen Kantors des Dresdner Kreuzchores, Rudolf Mauersberger, das Dresdner Requiem und der Trauerhymnus „Wie liegt die Stadt so wüst“erstmalig seit 1971 wieder aufgeführt. Es spielten der Gewandhauschor, das Vocalconsort Leipzig und das Ensemble Concerto Sacro. Bedrückende Stille am Schluss des Konzerts, schreibt Anja Jaskowski, in dem die Chöre „ausgezeichnet“ sangen und sich klanglich ergänzten, „bis im Choral auch das Publikum als Gemeinde mitsingt und mit Blechbläsern, Schlagzeugern und dem Organisten monumentale Klangwelten entstehen.“ Am Ende folgte dann doch noch der „gebührende Beifallssturm“.

Alvis Hermanis, dessen Inszenierungen am lettischen Theater Riga im Rahmen der euro-scene mehrfach zu Gast in Leipzig waren, hat nun mit einer Inszenierung am Kölner Schauspielhaus überzeugt. Im Stück nach Gontscharows „Oblomow“ bleibt der Titelheld einfach im Bett liegen, statt sich den Erfordernissen seines Gutshofes zu widmen. Der dickliche adlige Träumer („großartig“: Gundars Abolins), „zu sensibel für das Leben – und die Liebe“, fürchtet seine eigenen Gefühle und wechselt nur noch zwischen Essen und Schlafen. „Hermanis ist es gelungen, das Innenleben eines am Leben Verzweifelten auf die Bühne zu bringen, ohne zu langweilen“, schreibt Alexandra Stahl.

In einer Inszenierungskritik von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ in der Theaterfabrik fragt Stefanie Olivia Schreier zu Beginn berechtigt: „Wie wichtig ist heute, mehr als 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das Thema Nachkriegszeit“, und meint, gerade dieser Frage gehe die Inszenierung nach. Leider beantwortet die Schreiberin sie nicht, ja, schreibt nicht einmal, wer der Regisseur der Aufführung ist. Sie resümiert schließlich: „Mit seinem Tiefgang berührt das Stück sehr und lässt die relativ lange Spielzeit keinesfalls langweilig werden.“

Samstag, 12. Februar 2011

Lvz kultur vom 11.2.11: Ich bin die Revolution! Gianna Nannini, Berlinale, Pension Schöller

Eine oxytocinüberdosierte Gianna Nannini lallt ihr Mutterglück in die Welt – und hält sich prompt für die fleischgewordene (Frauen-)Revolution. Ist das nichts als Werbung für ihre neue Platte „Io e te“? Seit dreißig Jahren kämpfe die nunmehr 54-jährige frischgebackene Mutter für das Selbstbestimmungsrecht der Frau darüber, wann sie schwanger werden wolle. Ob diese Revolution bedeuten soll, dass künftig Frauen mit 50+ schwanger werden sollten, bleibt besser unbeantwortet. Aber gönnen wir Frau Nannini ihr häusliches Glück, auf welchem Wege auch immer dies zustandegekommen ist. Im Interview mit Sebastian Weber bezeichnet Nannini die Mutterschaft als eine Art Droge, die ihre Gesangsfähigkeiten enorm verbessert hätten, und stellt die Liebe zum Neugeborenen („Einheit, Person und Energie“) der Liebe in einer Partnerschaft („seltsam“, „immer mit Ängsten, Problemen oder sogar Krisen verbunden“) entgegen. In der Partnerschaft fühle sie sich in der Regel “nicht wirklich eins“ mit dem Beziehungspartner. „Anders die Geburt. In diesem Moment schenkst du die Liebe. Es ist die Geburt der Liebe..., die Geburt einer Einheit, einer Energie“.
Diese durchaus eitle und überhebliche Sichtweise, die das Werk bestimmter chemischer Hormone wie Oxytocin, die Liebe und Bindungen fördern, in  metaphysische Sphären heben will, macht sich selbst zum Muster statt zum Einzelfall, erhöht damit noch den Liebeszwang der Mütter, und schließt Personen aus, für die dieses Erlebnis - ohne eigene Schuld - nicht gilt. Nannini mystifiziert, wie es zu ihrer eigenen, späten Mutterschaft gekommen ist („Es war ein Engel, der mir das sagte“). Ihre Geschichte klingt tatsächlich wie eine neue jungfräuliche Mariengeburt. Männer waren scheinbar in keiner Phase im Spiel. Dazu kommt, dass sie selbst klingt wie die Erlöserin höchstpersönlich („Ich bin die Revolution“). Was viele 50-Jährige neugierig, wenn nicht neidisch werden lässt, wie sie z.B. zu dieser Schwangerschaft gekommen ist, von all dem kein Wort. Stattdessen Mystifikationen. Wie sagte Sebastian Weber anfangs: „Herzlichen Glückwunsch.“

Norbert Wehrstedt ist noch regelrecht trunken von seinem Erlebnis der Coen-Brüder auf der Berlinale, schon möchte er sich am liebsten zum Schlafen niederlegen. Doch zuvor muss er noch „Der Preis“ von Paula Markovitch sehen, der den müden Wehrstedt scheinbar nicht vom Schlafen abhalten konnte. So kommen dann – ich kann das gut nachvollziehen – Sätze heraus wie einer seiner Eingangssätze: „Die 42-jährige Argentinierin Paula Markovitch traf eine Krux, die auch andere Filmemacher jenseits der Filmindustrien trifft.“ Abgesehen davon, dass eine Krux nicht „trifft“, sie liegt möglicherweise irgendwo. Bei Wehrstedt  liegt sie darin, dass sein Satz weder verständlich ist,  noch überhaupt einen Sinn ergibt. Zudem muss man auch wegen dessen Unverständlichkeit geradezu raten, ob der Satz transitiv oder intransitiv gemeint ist. All das ermuntert nicht zum Weiterlesen. Wenn man überhaupt bis dorthin gelangt ist. Wehrstedt, dem Markovitch' Satz „Kino ist die Kunst, in Bildern zu erzählen“, so sehr gefällt, leistet dies selbst kaum. Schon das erste Bild in seinem ersten Satz, „Die Berlinale probt im Wettbewerb das Wechselbad“, ist so schief, dass es Wehrstedt gleich auf die Füße fällt.
Den Film „Margin Call“ von JC Chandor beschreibt Wehrstedt als „energiegeladenes Kammerspiel“ über die Gier der Menschen. Allein schon Demi Moore („unheimlich streng und sexy“) hat Wehrstedt diesmal wachgehalten. Außerdem scheint er Chandor gern darin übereinzustimmen, „dass wir eine neue Moral brauchen“. Und als drittes, möglicherweise entscheidendes Plus des Films nennt er das „menschlich aufwühlende“ Bild, wie einer der Banker im Film „seinen toten Hund begräbt“. Von den ganzen Finanztransaktionen im Film hat Wehrstedt daraufhin ruhigen Gewissens nichts verstanden.

Lesbarer und bezügereicher ist Maja Zehrts Artikel über „Leerstellen“ auf der Berlinale, die es eigentlich garnicht geben dürfte. Tut es aber doch. Die kalkulierte Leerstelle auf der Eröffnungsgala für den inhaftierten iranischen Regisseur Jafar Panahi ist nicht das einzige Beispiel. Ein schmerzender und gleichzeitig visionärer Brief Panahis wurde verlesen, den er aus dem Gefängnis schmuggeln konnte. „Niemand weiß, welchen Preis der Regisseur für seinen Mut bezahlen wird.“ Im Vergleich dazu sind die anderen Leerstellen, von denen Zehrt spricht, eher anekdotischer Natur. Das Fernbleiben des Coen-Teams bei ihrem eigenen Film etwa oder auch die Meldung, dass Madonna sich auf einen dreiminütigen Ausschnitt aus ihrem Film begrenzen wird. „Davo und danach gibt es: Leere.“

In einem so bissigen wie witzigen Beitrag für „ausgepresst“ stellt Jürgen Kleindienst den Antrag, dass die Schule erst um 9 Uhr beginnen, stattdessen Kinderarbeit in Theater und Fußball bis mindestens Mitternacht erlaubt werden solle.Nicht zuletzt unter dem Hinweis, dass „die jungen Menschen“ in der Zeit, in der sie auf der Bühne oder dem Platz stünden, sich nicht mit Nintendo oder Super RTL beschäftigen können.

Nina May hat ihren Besuch der "Pension Schöller" im Centraltheater wie gewohnt nicht mit einer einheitlichen Meinung abschließen können. „Ärger, Genervtheit und Langeweile“ empfindet sie im ersten, noch schwankhaften Teil der Inszenierung. Ihr missfällt die Masche, die Schauspieler „herumzappeln“ zu lassen (Maximilian Brauer), „abgehackt quäkend schreien“ zu lassen (Peter René Lüdicke) oder dem Text alle Leichtigkeit zu nehmen, indem es „mit allerlei Zusatzszenen aufgebläht“ werde. Da bricht sie schon mal den Stab über die Hartmann-Kunst („Künstler gerieren sich auf der Bühne in ihrem von Kirschgarten bis Prozess überstrapazierten Leerlauf – in der Annahme, innovatives Theater zu machen“), um ihn gleich anschließend wieder zusammenzuleimen. Die Figuren der vorgeblichen Irrenanstalt seien schlicht „großartig“: Birgit Unterweger, Ingolf Müller-Beck, Barbara Trommer, Hagen Oechel, Holger Stockhaus und auch Matthias Hummitzsch. Kehrtwende nach der Pause: Zwischen Thriller und Mafiosi-Film changiert das Genre nun, das auf der Bühne anzusehen sei. Einige aktuelle Anspielungen bis hin zu „Agit-Prop“ bleiben selbstverständlich nicht aus. Das einzige, was der May fehlt, worauf sie sich wohl gefreut hatte, ist der im Programmheft versprochene „Kommentar über das nervöse Zeitalter“. Scheint fast wieder vergessen, als Linda Pöppel nach annähernd vier Stunden in einem furiosen Schlussmonolog das Publikum zum Ab- oder Ausklatschen herausfordert, allerdings erst bei deftigeren Zitaten aus den Rängen sich wirklich zum Aufhören überreden lassen kann.

Mit ein wenig Etikettenschwindel, oder besser, typisch Leipziger Großmannssucht wurde mal wieder der Leipziger Theaterpreis vergeben. Nicht, dass die ausgezeichneten Schauspieler Guido Lambrecht und Hagen Oechel den Preis nicht verdienen würden. Das tun sie allerdings. Es wird nur wie schon in den Vorjahren der Eindruck erweckt, als seien die einzigen, in Frage kommenden  Schauspieler, Tänzer, Sänger etc. für den „Leipziger Theaterpreis“ am Centraltheater beschäftigt. Die Freunde des Schauspiel Leipzig e.V. haben sich allerdings in anderen Spielstätten der Stadt bisher nicht umgesehen. Leipziger Centraltheaterpreis wäre also bis auf weiteres die korrektere Bezeichnung. Nichtsdestotrotz, mit Sebastian Weber zu sprechen, „Herzlichen Glückwunsch.“

Donnerstag, 10. Februar 2011

lvz kultur vom 10.2.11: Dornröschenschloss Oper? Hilsdorf. Selek. Deimel.

Nicht Peter Konwitschny, Dietrich Hilsdorf macht die wichtigen Inszenierungen an der Oper Leipzig, die artifiziell sind, psychologisch und sehr lebendig und mitten hinein in den Gefühlshaushalt vieler Menschen treffen. Hilsdorf, der in Leipzig Mozarts „Entführung“ und Janaceks „Jenufa“ inszeniert hat, wäre eine Intendanz wert gewesen. Schade, dass man sich so schnell für den Spatz in der Hand entschieden hat.

Morgen hat abermals eine Hilsdorf-Inszenierung Premiere, Brecht/Dessaus „Deutsches Miserere“. Eine Premiere, auf die Leipzig tatsächlich zu warten scheint, so ungewöhnlich, herausfordernd und möglicherweise emotional aufwühlend sie zu werden verspricht („Da ist eine gewisse Grausamkeit, aber auch eine notwendige Bewusstmachung“). Peter Korfmacher sprach mit Hilsdorf. Der erklärt ihm sehr genau, warum dieses Requiem in Collagenform dennoch Theater ist. Den Bildern und Texten muss er natürlich noch das Szenische hinzufügen. Der dramatische Bogen scheint sich am ehesten über die Dramaturgie des Ortswechsels zu ergeben: Er verbindet Faustische Walpurgisnachtsymbolik (interessanterweise die dritte Faust-Auseinandersetzung demnächst in Leipzig neben Petras „Droge Faust Parsifal“-Inszenierung nach Schleef und Zielinskis „Zerreißprobe Faust“ nach van Woensel) und afghanisches Kriegsleiden mit deutscher Geschichte, einem antiken Chorstück über den Krieg (Äschylos' Perser) und schließlich einer Öffnung der Szene in Richtung Publikum.Das strömte bereits zu den Hauptproben, zumindest das ältere. Aber wo wirklich was los ist, kommen die jungen schon nach.

Zweimal hat das oberste türkische Gericht eine Entscheidung untergeordneter Stellen aufgehoben und eine Verurteilung der Angeklagten nahegelegt („lebenslang unter erschwerten Bedingungen“). Jetzt ist Pinar Selek, in Deutschland lebende türkische Soziologin, der die Beteiligung an einem gänzlich unbewiesenen Bombenanschlag in Istanbul zum Vorwurf gemacht wird, zum dritten Mal freigesprochen worden, wie Carsten Hoffmann berichtet. Das oberste Gericht stützte seine Haltung auf eine unter Folter gemachte Aussage eines Mitangeklagten. Selek galt allein schon durch ihre kritische Haltung zur Kurdenfrage und zu Geschlechterthemen in der politischen Diskussion der Türkei als enfant terrible und wurde entsprechend verfolgt.

Ein ungemein charmantes „Dornhäuschen“ hat Nina May in „ausgepresst“ zum Thema gemacht. Der Franzose Louis Mantin hatte testamentarisch verfügt, dass sein Haus in der Auvergne nach seinem Tod für 100 Jahre nicht verändert werden dürfte. Nach Ablauf der Frist ist es jetzt als Museum geöffnet worden. Nina May hat sichtlich Freude an der Vorstellung, dass die Leipziger Oper vielleicht unbewusst eine ähnliche Verfügung befolgt: Wieviele Jahre dem Publikum bereits nicht auffällt, dass die Oper hinter virtueller Dornröschenhecke einen seligen Schlaf schläft, in der höchstens ein armer Koch hin und wieder mal für versalzene Speisen sorgt, ist ihr eine spannende wie amüsante Vorstellung. Ob Ulf Schirmer der Prinz ist, der sie wachküsst? Nina May registrierte nebenbei bewundernd, dass in Mantins Haus die Glühbirne das modernste Element gewesen sei. Elektronisch gesteuerte Scheinwerfer hat die Oper heute auch vorzuweisen. Darf's auch etwas mehr sein?

Claus Deimel, Direktor mehrerer sächsischer Museen zur Völkerkunde, plant einen ungewöhnlichen Ausstellungstausch. Bis zu 300 Jahre alte indianische Kunst aus einem kleinen Museum im kanadischen Vancouver (U'mista Cultural Centre, Alert Bay) kommt nach Dresden, dafür werden etliche barocke Schätze der Dresdner Kunstsammlungen den Weg nach Kanada antreten. Die Doppel-Ausstellung „Die Macht des Schenkens“ stellt dann auf Dresdner Seite ausführlich den indianischen Ritus des Potlatchs dar, in dem bis 1884 Stammeshäuptlinge sich gegenseitig durch zeremonielle Geschenke zu übertrumpfen suchten. Der ursprünglich spirituelle Charakter des Festes ist durch den Einfluss materialistischer Gesinnung durch weiße Händler seines Inhalt beraubt worden, viele Stämme wurden so in den Ruin getrieben. Die kanadische Regierung verbot daraufhin den Potlatch bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein. Heute bemüht man sich um die Wiederbelebung dieser indianischen Tradition. Die Ausstellung wird über das Schenken als sozialen Akt dessen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlagen darzustellen versuchen, wie lvz redakteur Thomas Mayer schreibt.

Mit dem Beginn der Berlinale bricht wieder die Zeit der großen europäischen Filmfestivals an, die traditionellerweise stärker die Filmkunst ins Zentrum stellen als die am Massengeschmack orientierte Oscar-Preisverleihung. Auch wenn Berlin, Cannes und Venedig für manche bereits auf dem absterbenden Ast sitzen (die Zukunft läge in den Entwicklungen in arabischen, südamerikanischen und asiatischen Ländern oder dem Festival in Toronto, schreibt Gregor Tholl), ist der Glamourfaktor der drei doch außergewöhnlich. In einem augenzwinkernden Vergleich billigt Tholl der Berlinale den politischsten, dabei ästhetisch längst nicht auf Europa fixierten Stellenwert zu. Cannes hätte den größten Prestigefaktor während Venedig als romantisch und weniger geschäftsorientiert als die anderen gelte. Eine Prognose auf den Bären-Gewinner gibt Gregor Tholl aber nicht ab, außer, dass der Gewinner und der Titel des Film vermutlich wieder Zungenbrecher sein werden.

In einem Artikel voller abgestandener Redewendungen schreibt Tatjana Böhme-Mehner über die „Night of the Dance“ im Gewandhaus. Alles, was sie sagen will, geht unter in der inflationären Verwendung von Begriffen wie „im ursprünglichsten Wortsinne“, „ein Paket voller leckerer Appetithappen“, „was gegenwärtig so angesagt ist“, „und das kommt an“, „frisch serviert“, „Leckerbissen“, „mit unverwechselbarem Charme“, „sorgen für verblüffende Kurzweil“, „Kultnummern“ etc. Mit Böhme-Mehner zu sprechen, „am frischesten rüberkommen“ tut die ungemein wichtige, beim Leser entscheidende Floskel am Artikelende: „Ein echter Knaller.“

Mittwoch, 9. Februar 2011

lvz kultur vom 9.2.11: Schmierenkomödianten und Laiendarsteller. Amy Chua. Stéphane Hessels. Lena.

In China wird Amy Chua, die sich für ihre drakonischen Erziehungsmethoden „Tigermutter“ nennen lässt, als „verrückte Mutter“ bezeichnet. Zumindest von dem renommierten chinesischen Professor Yang Dongping. Die Zeit von „Leistungsdruck, Prüfungszwang und Auswendiglernen“ sei bald auch in China vorbei. Er sehe schwarz für dessen Entwicklung, sollten die Chinesen statt Menschen mit Persönlichkeit nur Dressierte heranziehen. Doch auch in Ostasien ist der Druck durch den starken Konkurrenzkampf groß. Das „zunehmend kapitalistisch getriebene China“ schüre Existenzängste. Gutes Einkommen sei der zentrale Weg, dieser Unsicherheit zu entkommen. Die Erwartungen an die Kinder seien also groß, wie Andreas Landwehr in der lvz schreibt. Doch überforderte, gestörte Kinder nur zu häufige Folge. Durch das Fördern und Einüben stereotyper und standardisierter Antworten in der Schule würde Kindern Lust aufs Lernen, Fantasie und Kreativität genommen. Und ohne sie kommt keine Gesellschaft heute aus. In Deutschland ist die Angst vor diesen Eigenschaften leider ebenso groß wie die Sehnsucht nach Drill.

Preußens Erbe sieht auch Stéphane Hessels, der Verfasser des Pamphlets „Empört Euch!“, in Deutschland noch wirksam. Während in Frankreich aus Tradition ein starker Widerstandsgeist herrsche, stehe einer Protestkultur in Deutschlands die Neigung zum „ohne mich“ entgegen, die noch von einer preußischen Mentalität zeuge. Es brauche eine radikal neue Aufsässigkeit, die das Unerträgliche in der Welt nicht einfach ignoriere, sondern genau hinsehen wolle. Und sich wider die Gleichgültigkeit empört. Und ganz konkret gegen die Ausbeutung des Planeten, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, den „Rausch des 'Immer-mehr'“ in allen Lebensbereichen, aber etwa auch den Umgang mit Sinti und Roma. Der 93-jährige Buchenwald-Überlebende und langjährige Botschafter Frankreichs bei den Vereinten Nationen ist nicht nur eine moralische Autorität, sogar mit deutschen Wurzeln. Er ist auch erfolgreich. Sein 15-seitiges Pamphlet, das seit gestern in deutscher Sprache – für 3,99 Euro – erhältlich ist, ist in Frankreich bereits 900.000 Mal verkauft worden.
Das schaffen hierzulande eher „Frustbücher“ à la „Deutschland schafft sich ab“, meint Jürgen Kleindienst, das Probleme zumal eher bei Minderheiten verortet. In Frankreich wird lieber gleich „Der kommende Aufstand“ prognostiziert. Ein 'Unsichtbares Komitee' hatte unter diesem Titel ein Manifest herausgegeben, das Alternativen zu der derzeitigen Katastrophenlähmung angesichts der unübersehbaren Untergangstendenzen beschreibt. „Einen Ausweg“ sehen die Verfasser „in selbstverwalteten lokalen, ökonomischen Organisationen“. Noch ein weiteres Manifest sei derzeit in Arbeit, von Ökonomen aus staatlichen Forschungseinrichtungen verfasst. Es zeigt Alternativen zu neoliberalen Glaubenssätzen wie dem von der Effizienz der Finanzmärkte.
Mal sehen, wann der Funke aus der arabischen Welt nach Europa überspringt.

Über ein sogenanntes „Taschenkonzert“, das drei Gewandhausmusikerinnen für Patienten mit kriminellem Hintergrund in der Klinik für Forensische Psychiatrie St. Georg gegeben haben, berichtet Claudia Panzner. Dass es neben dem Konzert auch Gespräche und Übungen gegeben habe, gehöre zu dem Konzept von Franziska Vorberger dazu. Die kranken Straftäter, die aus erster Hand einen Einblick in die Disziplin und den organisierten Tagesablauf der Musikerinnen erhalten hätten, könnten sich bei aller Bewunderung, aber auch Traurigkeit über die verpassten Chancen ein solch strukturiertes Leben für sich selbst nicht vorstellen. Doch, wo niemand da ist, der es vorlebt, braucht sich auch niemand zu wundern, wenn Lebenswege gänzlich anders verlaufen.

Als „Musik für einen netten Spiele-Abend“, die allerdings in jeden Plattenschrank gehöre, bezeichnet Mathias Wöbking die neue Platte „Good News“ von Lena. Auch durch Wöbkings Artikel schimmert die „Liebe“ zu dieser „Björk in Taschenformat“. Dass der „Glanz ihrer Unbekümmertheit“ und ihre große Bühnenpräsenz das entscheidende Quäntchen ausmachen, hat sich für den lvz redakteur auch beim Vergleich der Studio- und der Livefassung vom „Überraschungshit Taken By A Stranger“ offenbart. Die Rätselhaftigkeit des Songs, die ihn von den anderen unterschieden habe, fehle bei der Studioversion.

Ein „minderwertiges“ Phantom der Oper hat im Gewandhaus gastiert, hoffentlich kein Omen für die künftige Zusammenarbeit von Gewandhaus und Oper Leipzig. Doch diese Trittbrettfahrer der erfolgreichen Hofmannschen Inszenierung des „Phantoms“ geizten nicht nur mit musikalischen Einfällen. Tatjana Böhme-Mehner empfand es als regelrecht „trauriges Szenario“, was ihr und den anderen Zuhörern geboten wurde: Nicht nur, dass über „sängerische Macht und Wirkung“ mit denkbar ungeeignetsten Mitteln verhandelt wurde, auch „darstellerisch lässt sich der Eindruck schwer von der Hand weisen, dass hier alte Schmierenkomödianten auf Laiendarsteller treffen. Und die Präsentation platter Sprechtexte schmerzen in ihrer Artikulation.“ Es habe tatsächlich nicht mehr als „Anstandsapplaus“ gegeben.

Dienstag, 8. Februar 2011

lvz kultur vom 8.2.11: Krisen machen kreativ. Barbara Steiner. Gary Moore. Erich Loest.

Vielen Dank, Frau Steiner, für Ihre Arbeit in der GfZK! Die kluge und beharrliche Ernsthaftigkeit, mit der Sie Ihre Ziele und Ansichten vertreten und sich nicht wichtiger nehmen als für die Dinge gut ist, hat manchem in der Kultur Leipzigs imponiert. Dafür spricht auch das Interview, das Sie mit lvz redakteur Jürgen Kleindienst geführt haben.
Barbara Steiners Sicht, dass auch die Stadt von Zeit zu Zeit eine neue Herausforderung und neues Nachdenken in Hinsicht auf ihre Institutionen brauche, ist ungewöhnlich genug. Aber solange sie Leiterin der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig war, hat sie dies auch selbst geboten. Denn einfach zu sein, hat sie den Leipzigern nie versprochen. Auch wenn ihr „eine Art Abgehobenheit“, als die sie „elitär zu sein“ begreift, nicht gefällt. Sie wolle nicht zusätzlich zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Dem hat sie entgegengewirkt in ihrer täglichen Arbeit, indem das GfZK mit vielen Projekten raus aus seinem Kunsttempel in der Tauchnitz-Straße ging. In die Kleinstädte der Region, sogar nach Nordafrika, und – fast noch weiter entfernt – in die Kindergärten.
Auf Leipzig angesprochen, meint Barbara Steiner, dass der Kulturpolitik nicht nur überzeugende Konzepte fehlten, sondern vor allem ein neues Denken, wie die Institutionen in Krisen betrieben werden können. Dabei machte eine handfeste Krise kreativ - oder man gehe unter. Das Klammern an alte Rezepte, verbunden mit einer Vogel-Strauss-Politik „ist die eigentliche Krise“, sie führe zu Inaktivität. Von Seiten der Politik zu erwarten, dass mit immer weniger Geld das gleiche erzeugt werden könne, trage allerdings zum Dilemma bei. Als wegweisend in seiner Arbeit empfindet Steiner etwas das Forum zeitgenössische Musik oder die DOK Leipzig, aber auch die GfZK selbst.

Mark Daniel kann es immer noch nicht fassen. Nein, nicht, dass das zeitweise Mitglied von Thin Lizzy, Gary Moore, 58-jährig gestorben ist, sondern schlicht dessen Gitarrenspiel selbst. Mit dem habe er insbesondere live „pure Fassungslosigkeit“ erzeugte. Moore, der zu Thin Lizzy's Kopf Phil Lynott ein enges Verhältnis hatte, brachte besonders durch seine überraschenden musikalischen Kehrtwendungen und Neuorientierungen viele seiner Musikerkollegen ins Grübeln. Sein Wechsel vom Rock- ins Bluesfach etwa hatte bei manchen sogar Verratvorwürfe laut werden lassen. Lynotts Tod hatte Moore selbst sehr mitgenommen. Jetzt, anlässlich seines eigenen Tods, so kalauert Daniel, bekämen etliche seiner Rocker-Kollegen doch den Blues. Daniel tröstet sich mindestens selbst damit, dass bei der Vorstellung, im Himmel käme es zu einer Wiedervereinigung der beiden Musiker, dort wohl die Hölle los sei dürfte.

Erich Loest räumt weiter auf. In seinem Furor rechnet der 85-Jährige nun mit Schriftstellerkollegin Christa Wolf ab, wie die dpa vermeldet. Wolf gehörte gerade nicht zu denjenigen, die in der DDR „nicht mehr mitgespielt hätten“, sondern im Gegenteil noch 1989 zu den „engagiertesten“ Vertretern für ein „Weiterbestehen der DDR“. Er selbst, der bekennt, bis zuletzt „glühender Nazi“ gewesen zu sein, wirft nun allen an „rote Utopien und Mythen“ Glaubende „religiösen Fundamentalismus“ vor. Wann jemand anderer aus seiner Lebenserfahrung die richtigen Schlüsse ziehen müsse – und welche sind das? – ist aber schwer zu sagen. Den Besserwisser legen wir Deutschen halt ungern ab. (Ohne diese Rechthabereien gäbe es vermutlich auch dieses Blog nicht schon so lange.) Vielleicht hat sogar Christa Wolf manchen treuen Kommunisten oder manche treue Kommunistin oder sogar Mitläufer erst zum Nachdenken über die DDR gebracht? Vielleicht steht ja in Loests demnächst erscheinendem Tagebuch genauer, warum die Wolf wegen ihres politischen „Glaubens“, was denn eigentlich sonst?, angezählt werden müsse.

Fast hätte Janina Fleischer mit der Autorität des ältesten Gewerbes der Welt alle im poetry-slam den Weltgeist überwintern-Glaubenden ein Kondom über die nassforsche Spätpubertät gezogen. Doch so alt ist „der Literaturbetrieb“ dann doch wieder nicht. Dennoch, die Verlautbarung des Slammers Ko Bylanzky, „junge Leute für Kultur zu interessieren und an Sprache heranzuführen“, verbunden mit der vergifteten Spitze, der Slammer sei „authentischer“ als der Poet (Spitzweg!) bei „klassischen Lesungen“, klingt tatsächlich etwas modisch selbstüberzeugt. Ob Janina Fleischer in „ausgepresst“ mit ihrem Spott den Bogen nicht etwas überspannt? Immerhin haben die Slammer unter den Poeten tatsächlich ein paar Jahrhunderte mehr Tradition auf dem Buckel als die verbürgerlichte romantische Dichterseele. War denn nicht der Rhapsoden-Wettstreit Homer gegen Hesiod der erste verbürgte Poetry Slam der Kulturgeschichte? Da braucht Fleischer gar nicht erst angeberisch anzubringen, dass Cornelia Funke oder David Kehlmann noch etwas zeitgemäßer als die Slammmer seien, schließlich läsen beide bereits nur noch Playback! Was übrigens auch Fleischer noch nicht restlos überzeugte, denn sie fragt berechtigterweise, warum die denn nicht schon Karaoke-Lesungen abhielten? Fast schade um diese kleinen Eifersüchteleien. Aber vielleicht erleben wir ja dieses Jahr zur Buchmesse am lvz forum noch eine Überraschung.

Ulf Heise hat Margriet de Moors neuen Roman „Der Maler und das Mädchen“ gelesen. Mehr, als eine Stimmung erzeugt zu haben, „die einen die dramatischen historischen Momente förmlich atmen lassen“ (was ist Helmut Kohls Mantel der Geschichte gegen diese Formulierung?), wäre ihr allerdings nicht geglückt. Der Roman verbindet die Geschichte des alternden, im Alter erfolglos werdenden Rembrandt („Maler“) mit der einer jungen Frau, die von Dänemark nach Amsterdam auswandert, auf der Suche nach Arbeit und Leben, und die in einen Streit hineingezogen wird, der mit Totschlag endet. Und darauf mit der Hinrichtung der Elsje, des „Mädchens.“ Das heißt, es verbindet diese beiden Geschichten oder Stränge eben nicht. Genau das ist Heises Vorwurf an die Autorin, dass sie nur parallel liefen, sich kaum berührten. Außerdem passe ihr Stil, der zwar das Idiom beherrscht, aber zu Manierismen neige, nicht zur Schilderung des Lebens der Elsje.

Das Stelldichein deutscher Filmgrößen in der Münchner Michaelskirche, auch Abschied von Bernd Eichinger genannt, sei würdevoll gewesen, berichtet Ralf Isermann. Tykwer, der eine der Trauer-Ansprachen hielt, merkte in einer Inszenierungsanalyse an, E.s plötzlicher Tod hätte „wie ein falscher Schnitt“ gewirkt. Aber „vielleicht hätte Eichinger genau dies gewollt.“ Filmakademie-Präsident Rohrbach merkte in seiner „bewegenden“ Rede an, die Todesnachricht sei „ein eiskalter Schlag wie mit dem Fallbeil“ geworden. Er hätte sich von Eichinger „wenigstens ein Zeichen, ein diskretes Signal auf seinen bevorstehenden Tod“ gewünscht. Nach zwei Stunden wurde zum Beatles-Hit „Let it be“ die Urne aus der Kirche geleitet, die Trauergemeinde zum Leichenschmaus in den Kaisersaal der Münchner Residenz geführt, bevor die „engsten“ Gefährten „noch einen Abschiedstrunk bei Schumann's am Odeonplatz“ zu sich nehmen wollten. Das hätte Eichinger wohl wirklich gefallen.

Montag, 7. Februar 2011

lvz kultur vom 7.2.11: Keine Party ohne Alte. Philip Roth. Warhol. Sasportas

In Philip Roths neuem Roman „Nemesis“ geht es um Gott und Gerechtigkeit. Es geht um Bucky Cantor, einen Sportlehrer, es geht um Polio, Kinderlähmung, die 1944 die Stadt Newark erfasst. Cantor schämt sich, wegen seiner schwachen Augen für den Krieg als untauglich erklärt zu werden. Er schämt sich mehr noch und fühlt sich als Deserteur, weil er angesichts der Seuche zwei Tage zu früh seinen Dienst auf den Sportplätzen Newarks verlassen hat. Als er schließlich selbst an Polio erkrankt, „kann Cantor nicht anders, als die Tragödie in Schuld zu verwandeln.“ Er gibt sich auf und rechnet mit Gott ab. In seinem selbstgerechten Zorn zerstört er, was ihm etwas bedeutet hat. Janina Fleischer schildert den inneren Kampf des jungen Juden als ein Verhängnis, das dieser nicht als göttliches annehmen kann.Über das vertretbare Maß göttlicher Gerechtigkeit will dieser Mensch immer noch selbst entscheiden. Ein Hiob ohne Antwort von oben.

Ulrike Hofsähs berichtet über eine Fotoausstellung im Düsseldorfer NRW-Forum. Mehr als 30 Fotografen, darunter Mapplethorpe, Avedon und Warhol, werden mit rund 400 schwarz-weiß-Fotos aus der Sammlung Nicola Erni erstmals präsentiert. Sujet ist der Jet Set der 60er und 70er Jahre, von Warhol selbst bis Brigitte Bardot, von Romy Schneider bis Onassis und Uschi Obermeier. Bemerkenswert ist scheinbar der Versuch, ungewollte (und unerwartete) Paparazzifotos von den selbst gewollten Zurschaustellungen der Stars zu scheiden – oder eben fließende Übergänge zu dokumentieren.

Peter Korfmacher formuliert in der Glosse „ausgepresst“ eine interessante mediale Wahrnehmung. Die Ausweitung der politischen Talkzone in der ARD (An künftig fünf Abenden statt vier) erscheint dem chef der lvz kultur gefühlt weniger als bisher. Wo vorher die vier Abende als Dauergequatsche erschienen, glaubt kfm, dass die Unterschiedlichkeit der Formate/Talkmaster nun stärker ins Auge fallen – und dadurch das „Laber-Continuum“ verringert, sprich, individualisiert wird. Laut einer ARD-Umfrage scheint kfm damit in Widerspruch zur Mehrheit aller Deutschen mit Abitur zu stehen. Was man so genau auch wieder nicht wissen wollte.

Mit einer „Meditation über die deutsche Seelenlandschaft“ in Form von Video-Installationen der israelischen Künstlerin Yehudit Sasportas wartet die Galerie Eigen + Art auf. Der 1969 geborenen Künstlerin gehe es um „die Sichtbarmachung der Schichten des Unbewussten.“ Verborgene Gefühle und nur von Zeit zu Zeit an die Oberfläche kommende Erinnerungen sind laut Anna Kaleri das Material für ihre mitunter „unheimlichen Parallelwelten, die an Tarkowski-Filme erinnern.“ Nicht besonders überraschend, sieht Sasportas im Wald und der nordwestdeutschen (Sumpf-)Landschaft den zentralen – romantischen - Topos der deutschen Seele. Sie selbst sieht sich intellektuell in der Nähe von Benjamin, Heidegger und Beckett. „Ihr analytischer, Zeiten durchdringender Blick“ mache wie der ihrer Vorbilder optisch erfahrbar, was mit Sprache kaum auszudrücken sei. Der fließende Übergang der Bilder in grafische Elemente und Abstraktionen legt psychologische Strukturen offen, die so zuerst ästhetisch erfahrbar werden.

Ein „Sachstandsbericht“ des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Hamburger Elbland-Philharmonie bestätigt nicht nur den Eindruck eines Millionengrabs, sondern belegt auch noch detailliert, an welchen Stellen die Auftraggeber sogar gegen ausdrückliche Warnungen (u.a. der Architekten selbst) und trotz krass zu Tage tretender Risiken (dem Hochtief-Konzern war das Risiko des integrierten Hotels zu hoch, die Stadt sprang daraufhin auch für die Luxusherberge in die Bresche) dieses Unternehmen durchgepeitscht haben. Von „Skandal“ wird am Mittwoch, wenn der Bericht im Hamburger Senat diskutiert wird, wohl nicht mehr nur der Bund der Steuerzahler sprechen. Wie Christoph Forsthoff schreibt, soll der Bau statt ursprünglich berechneter 186,7 Mio. Euro unterdessen „mindestens 531,2 Mio. Euro kosten.

Dürfen Thirty- oder sogar Fourtysomethings noch cool sein? Irgendwann muss das eigentlich mal vorbei sein, wenn es nach der Band 1000 Robota geht, die sich beim Buback-Labelabend im Centraltheater vorkam, als würden sie mit ihren Eltern Party feiern. Doch die „Alten“ ließen sich davon in keinster Weise beeindrucken, beendeten das Fremdeln gegenüber der Bühne, kaum dass es angefangen hatte, legten alle Reserviertheiten ab und wollten nichts als Feiern und Tanzen. Bis sogar F.S.K., die „wohl größte unbekannte deutsche Band“, arg verwundert war, dass ihr Publikum den gecoverten Song bereits als Original kannte – und jubelte. Jörg Augsburg jedenfalls fand zunehmend Gefallen am Auftritt der zornigen Jungen vor „immer jungen“ (Goldene Zitronen) Alten. Und stellte fest: „Der Infizierungsgrad dieser bösen Tanzmusik ist enorm.“

Alt kam sich auch Steffen Georgi bei der Jörg-Fauser-Show „Versilberte Rebellen“ in der Skala vor. Selbstverständlich war auch er früher „hungrig“ nach dem Fauser-Ton. Doch das Original, Charles Buklowski, fand auch er „bald besser als seine westdeutsche Miniaturausgabe.“ Von Kerouac und Burroughs zu schweigen. Jetzt saß er bei einem Flashback in der Skala, erlebte suff und Siff, deutsche Enge und weite Welt von Neuem. Wenigstens „erinnerten“ ihn die 'Versilberten Rebellen' (Steve Binetti, Günther Harder, Guido Lambrecht und Cordelia Wege) daran, „warum man Fauser mal liebte.“ Obs einen Grund für Spätgeborene gibt, den Abend zu besuchen, ließ Georgi offen.

Samstag, 5. Februar 2011

lvz kultur vom 5.2.11: Zwischen Partyhütchen und Wischmob. Lena. Krystallpalast. Hilbig.

Gegen die Katholische Kirche ist Hosni Mubarak ein Jungfossil. Versteinert sind sie beide. Parallel zu den Massendemonstrationen in Ägypten gibt es in der Kirche nun einen an Aufruhr erinnernden theologischen Massenprotest. „Die Kirche muss die Zeichen verstehen und selbst aus verknöcherten Strukturen ausziehen, um neue Lebenskraft und Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen“, schreiben 144 katholische Theologieprofessoren in einem Memorandum. Sie protestieren gegen das Zölibat, die erzwungene Ehelosigkeit der Priester, und auch gegen das Verbot weiblicher Priester.

Man darf gespannt sein, ob das orthodoxe Vatikan statt mit Steinen, Gewehren und Schlagstöcken nun mit fürsorglichen Gesprächen und Exkommunikationen auf den Protest reagieren wird oder ob sie bis zum Besuch des Papstes in Deutschland schweigen werden.

Lena Meyer-Landrut gewährte Imre Grimm ein gar nicht mal kurzes Interview. Ob es nun gehalten worden wäre oder nicht, den Unterschied können wohl nur die Erbsenzähler der veröffentlichten Peinlichkeiten ermessen. Der investigative Teil des Interviews endet bei der Frage nach einem Stimmtraining. Ja, schon, meint Lena, bisschen Unterricht, was Stimmeaufwärmen und Abklingenlassen betrifft, hätte sie, aber „bloß leider nicht so viel Bock“ darauf. Lena verweist gefühlte siebzehnmal darauf, dass sie sich – anders als Britney Spears - schließlich weiterentwickle, älter, reifer werde. Das wirkt sich zwar nicht erkennbar aus. Also muss sie noch einen Grund zum Älterwerden nachschieben: Sie hätte ebenso „einfach keinen Bock darauf, jahrelang 18 zu sein“. Deshalb hat sie nun beschlossen, 20 zu werden. Das übrigens auch, weil sie Geburtstage „immer toll finde“, ja, „ich liebe Geburtstage über alles, wirklich“. Auch in Oslo mussten schon alle Leute an ihrem Geburtstag Partyhütchen tragen, das war einfach geil. Ansonsten muss Lena aufpassen, dass Stefan Raab sie künftig nicht an Kehrblech und Wischmob fesselt, denn Lena gibt zu, dass ihr während der Hausarbeit „eine Melodie eingefallen sei und sie sich daraufhin irgendwelche Worthülsen überlegt habe.“ Die hat sie sogleich auf ihr iPhone aufgenommen, hat in einem Akt schieren Wagemuts ihren „inneren Schweinehund überwunden“ und das Lied Stefan Raab vorgespielt. Nun will sie weitermachen mit dem Liederschreiben. Das haben wir nun davon. Eine Hoffnung: Vielleicht muss sie ja noch nebenbei putzen gehen.
Herzlichen Glückwunsch, Frau Grimm, zum Zeilenhonorar!

Tatjana Böhmer-Meine hat ein Großes Concert im Gewandhaus erlebt, und einen „angenehm kurzweiligen“ und zugleich „angenehm fassbaren“ Abend erlebt. Die Musik von Schönberg, Strauss und Mendelssohn hätte sie unter dem Stichwort ‚Traum, Nacht, Tod, Todessehnsucht, Verklärung, Romantisch und postromantisch gesehen und gedeutet. Dirigent Sinaisky trug „glücklicherweise“ nicht „zu dick“ auf, er habe vielmehr „Opulenz ohne Lärm“ erlebt, danach klingt nun das Intro im Theaterhaus „gediegen und gesetzt“.

Spiegel TV ist auf dem besten Weg, die Geschmacklosigkeit des Jahres in den eigenen Reihen zu halten. Es geht um den fleischlosen Führer, dessen Reizdarm, vegetarische Essgewohnheiten und Blähungen Adolf Hitlers, die einfach nicht verschwänden. Jürgen Kleindienst wollte fast schon einen Diätplan nach neusten Errungenschaften für die heutigen Stars und Sternchen kreieren. Bis jkl noch mit halbem Ohr am Fernseher hängend die Schlussspointe mitbekam, dass nach dem vegetarischen Mahl „die Inkarnation des Bösen sich ohne Reue eine Kugel in den Kopf geschossen habe.“ Also lieber doch noch mal abwarten, Nicht, dass der lvz die Promis ausgehen!

Das Krystallpalast Varieté hat nach dem Vorbild der Zaubershow nun ein Konzertvarieté voller singenden, klingender Varietékünstler engagiert. Bernd Locker beurteilt den musikalischen Part als „ganz anständig“, immerhin sei „das Gewandhaus gleich um die Ecke.“ Der Rest, insbesondere „das Szenische, klappert gewaltig“, kein aufregender Rhythmus, kein „flüssiger Handlungsablauf“, Gesichter hinter „italienischen Karnevalsmasken“ gemeinsam mit den artistischen und solistischen Minus-Programmpunkten (…).

Aus Anlass einer Veranstaltung zur Editionsgeschichte von Wolfgang Hilbigs „StimmeStimme“, wird Wolfgang Hilbigs Tod von 2007 Gegenstand eines Gedichts von Thomas Böhme, ein Schriftsteller-Kollege Hilbigs: „Die Finsternis/ hat ihre zärtlichste Stimme verloren“ heißt es in „Wolfgang Hilbig ist tot“. Der Rest der Veranstaltung blieb einigermaßen kryptisch. Claudia Panzner meint, „ein Gesamtüberblick, eine Einführung in den ‚StimmeStimme-Band’ fehlt, Kenntnisse der Zeit und der Zensurvorgänge, der Namen und Ereignisse werden vorausgesetzt. Transparenz fehlt oder geht durch die hohe Erwartungshaltung an das Publikum verloren.“ Nur Referent (und Hilbig-Lektor) Hubert Witt ist überrascht: „Ich konnte nicht ahnen, wie viele genauer Bescheid wissen als ich.“

Elfriede Jelineks „Winterreise“, ein 77-seitiger wortgewaltiger Monolog, hat unter der Regie von Johan Simon Premiere an den Münchner Kammerspielen gefeiert. Von Empörung, der bevorzugten Währung bei Jelinek-Uraufführungen, keine Spur. Tragisch wurde die Komödie wie von Simon versprochen immer dann, wenn Jelinek „persönlich wird“. Also durchaus häufig, wie Britta Schultejans meint, denn die Winterreise „gilt als sehr stark autobiografisch beeinflusst.“

Steffen Georgi hat im Westflügel das Gastspiel von Thalias Kompagnons mit „Kafkas Schloss“ gesehen. Und war nicht nur vom Text hingerissen. „Die schöne, weil dem Stoff bestens angemessene Doppelbödigkeit dieser Inszenierung nun ist, dass Vogt, hinfort der Puppenspieler, seine Performance selbst so anzulegen vermag, als würde er gespielt werden.“ Und: „Vogt beherrscht das so gut, dass er seinen Figuren mitunter fast ein wenig die Show stiehlt.“ Aber nur fast.

Freitag, 4. Februar 2011

lvz kultur vom 4.2.11: Herrscherfamilien, die Mitleid verdienen. Bascha Mika. James Last. Traetta.

Selten wurde so deutlich, dass der Markt zu einem guten Teil pure Erpressung darstellt. Beim Vergleichsvertrag des Wettiner Adelsgeschlechts mit dem Freistaat Sachsen, etwa 300 wertvolle Porzellanstücke betreffend, vermag sich der Erpresste allerdings sogar darüber zu freuen, dass er so billig davongekommen ist. Der Stolz, nicht käuflich zu sein, weicht dem Stolz, sich jetzt mit einer wundervollen Sammlung Porzellans brüsten zu können, die künftig allen Touristen bestätigen, dass ihr Dresdenbesuch, besonders der im Zwinger, einfach wunderschön gewesen ist.
4,2 Mio. Euro kostet der Spaß. Jetzt ist die Sammlung unser. Und wird nicht bei Christie's in London an privat versteigert. Das Geld hilft einem mittellos, ärmlich zur Miete wohnenden Adelssprößling über die letzten Erdenjahre. Wer weiß, ob der 76-Jährige und seine Schwester noch erleben werden, dass weitere Erpressungs-, äh, Entschädigungssummen (für Bücher, Möbel, Gemälde) auf seinem Konto eingehen werden. Immerhin, 2012 sollen die Lösegeldverhandlungen zu Ende sein, schreiben Thomas Mayer und Jörg Schurig.

In seinem Leitartikel, in dem Dirk Birgel über eine dicke Porzellan-Kuh beim Eislaufen schreibt, schließt der redakteur der dresdner neusten nachrichten: „Man mag bedauern, dass die 4,2 Mio. Euro nun ausgerechnet jenen Nachkommen zufallen, die sich mit Ausnahme von Prinz Alexander am wenigsten um Sachsen verdient gemacht, und die als Karikatur einer einstigen Herrscherfamilie eigentlich tiefstes Mitleid verdient haben.“ Als Ausgleich und Dankeschön für 829 Jahre Wettiner Herrschaft in Sachsen kriecht Birgel ganz untertänigst zu Kreuze und befindet: Die 4,2 Mio. seien dafür „ein Klacks“.

Ob in 799 Jahren die Nachkömmlinge des Mubarakgesindes auch so dankbar sein werden? Was sind schon 30 Jahre Herrschaft der trotzdem schon versteinerten ägyptischen Mumie H. M.? Der alte Mann erpresst nun verarmte, würdelose Männer, damit diese mit Eisenstangen, Prügeln und Gewehren gegen die aufbegehrenden Menschen vorgehen und dem alten Mann erlauben, an seiner pharaonenhaften Macht festzuhalten. Die Deutsch-Ägypterin Gaby Habashi glaubt trotzdem nicht daran, dass sich Mubarak halten kann. „Was wir erleben, ist ein Aufstand des ganzen Volkes gegen ein Regime, das keinen Rückhalt mehr hat. Es gibt sehr viele Bürger, die einfach keine Angst mehr haben.“ Und diese Menschen würden auch kein Diktat der Muslim-Brüder, keinen Gottesstaat akzeptieren, sagt Habashi im Interview mit lvz redakteur Kostas Kipuros.

Vom Mut zur Feigheit. Die lvz kultur macht mit einem Bericht über das jüngste Buch der früheren taz-Chefredakteurin Bascha Mika auf, „Die Feigheit der Frauen“ betitelt. Jutta Rinas schreibt über den „kämpferischen Beitrag zur aktuellen Gleichberechtigungsdebatte“, dass Bascha Mika den Frauen darin „eine gehörige Portion Mitschuld“ daran gibt, dass sich ihr Geschlecht in der Männergesellschaft nicht adäquat durchzusetzen vermag. Sie machten sich zu schnell „zu Komplizinnen“ des Systems, machten sich viel zu schnell „abhängig“, nicht zuletzt von einem Partner. Das beginne mit der „Modelzucht“, die „kleine Mädchen für die Rolle als Mutter und (Teilzeit-)Hausfrau 'zurichtet'.“ Mika kritisiert die „Pest aus Pink“, bei der „eine ganze Spielzeugindustrie Mädchen auf eine Frabe trimmt und damit ein Rollenmuster verfestigt“: Das der „schönen Prinzessin, die auf den Prinzen wartet statt selbst zu regieren.“
Frauen finden kein dem männlichen „einsamen Wolf“ vergleichbares Rollenmodell vor, und schließlich würde Frauen noch der Mythos der „angeborenen Mutterliebe“ eingetrichtert. Mit dem Kinderpsychologen Bruno Bettelheim meint Mika, dass es „natürlich keinen mütterlichen Instinkt gebe“, auch wenn Bettelheim dieses „letzte Bollwerk“ nicht öffentlich in Frage stellen wollte. Bascha Mika will. Rinas zeigt sich zwar beeindruckt von Mikas Exkursen und „brillant geschriebenen Analysen der Verhältnisse“, hält ihr gleichwohl vor, dass sie „zu wenig Alternativen aufzeigt.“ Sie glaubt nicht daran, dass nach „Mikas flammendem Aufruf für mehr Emanzipation alle Frauen zu Heldinnen des Geschlechterkampfs“ werden. Stattdessen plädiert sie – „zur Frauenquote und zu verbesserten Arbeitsbedingungen von Frauen durch eine bessere Kinderbetreuung.“

Norbert Wehrstedt leidet. Er leidet mit Maria Schneider, der ein Film zum Fluch wurde. Es geht um den Film „Der letzte Tango von Paris“, in dem ein älterer Mann nach dem Tod seiner Frau Halt bei der von Maria Schneider verkörperten Frau findet – und Sex. Während die Darstellung der Ängste des alternden Mannes und der Analverkehr mit der jungen Jeanne Marlon Brando zu Weltruhm verholfen haben, hat Maria Schneider ihre Rolle fast ausschließlich Angebote für „lüsterne Eroticals“ eingehandelt. Alkohol, Drogen und psychische Probleme haben die Schneider krank gemacht; dass sie 1976 aus den Dreharbeiten zu Bertoluccis Revolutions-Epos „1900“ ausgestiegen ist, wohl endgültig den Karriereweg versperrt. Nach langer Krankheit starb Maria Schneider mit nur 58 Jahren.

Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ war weder schwanger noch krank, sondern ein Mann. Das hat die neuste Forschung herausgefunden – und Janina Fleischer in „ausgepresst“ zu der Äußerung gebracht, „lieber Mann als magersüchtig.“ Es geht also alles noch schlimmer.

Mit 38 Mann Verstärkung und der Show „Musik ist meine Welt“ wird James Last die Arena Leipzig erobern. In einem gut gelaunten Interview des Erfinders des „Happy-Sounds“ mit Jürgen Kleindienst nörgelt James Last noch darüber, dass überall „wirklich unglaublich viel gequatscht“ wird, statt einfach „mal ein Programm durchgezogen“, bevor er eine wahre Lobeshymne auf Eminem („seine Wucht“ und „wie er reinhaut“) und Rapper, die „wahre Geschichten erzählen“, singt. Das „macht mich an.“ Von Kleindienst gefragt, wie sein Tourtag „zu Ende geht“, meint Last, an der Hotel-Bar, die reserviert wird, und wo sie „noch was spielen“, bevor seine Frau sage, „Hansi, wir müssen jetzt ins Bett.“ Kleindienst: „Und?“ Last: „Dann geht’s ins Bett.“

Zwei Elogen über außergewöhnliche Musiker sind noch zu finden: Peter Korfmacher berichtet über den honduranischen Komponisten Marlon Herrera, dessen Musik („kühn Klassik, Jazz und Tango verzahnend“) in Honduras nicht mehr gespielt werden könne, seit das einzige Theater mit eigenem Orchester wegen Sparmaßnahmen geschlossen worden sei. Und nun im MDR-Probenwürfel aufgeführt wird, neben Musik von Nicolás Prada Diaz, Stefan König und Chick Corea.

Und Gerald Felber weiß sich vor Verzückung gar nicht mehr einzukriegen, wenn er die Aufführung von Traettas Oper „Antigone“ in der Staatsoper Berlin („nicht mehr als fünf Vorstellungen!“) schildert, einem Stück, das mehr Aufmerksamkeit verdiene als manches Wagner-Großprojekt. „Berlin als Ausgangspunkt einer Traetta-Renaissance – das wäre mal ein schöner Traum, dem es wahrscheinlich gehen wird, wie den meisten Träumen.“ Musik, noch dichter und pulsierender als Gluck, ein Energiestrom. In den Rollen u.a. eine „intensivst gestaltete Counterpartie“, die aus ruhiger Gelassenheit zur wilden, auch stimmlich extrem zupackenden Rebellion wächst, und noch mehr Lobeshymnen. Felber schließt: „Schnell nach Berlin, ehe es zu spät ist!“

Jörg Augsburg führte wieder eines seiner profunden Interviews, heute mit Thorsten Seif über das Independent-Label Buback. Aus dem Label gastieren vier Bands „zwischen System-Rebellion, Pop-Philosophie und Indie-Radau“ im Centraltheater. Zur Mode, Konzerte in Theater abzuhalten, meint Seif, „Zum eines gibt's die generelle Annäherung der Institution Theater an die Popmusik, als Versuch einer Art Verjüngungsprozess“, außerdem würden viele Musiker wie Schorsch Kamerun oder Ted Gaier von den Goldenen Zitronen „viel am Theater machen. Für die ist das ein so normaler Kontext geworden, wie es früher das AJZ war“. Und das Theater bezahle auch besser als das Conne Island. Heute also Konzert im CT mit Kristof Schreuf, F.S.K., 1000 Robota und den Goldenen Zitronen.

Donnerstag, 3. Februar 2011

lvz kultur vom 3.2.11: Faber im Haifischbecken. Hindenburg. Sondheim. DJ Ralph D.

Ein reines Prestige-Projekt sei der Fernseh-Zweiteiler „Hindenburg“, zitieren die redakteure Eric Leimann und Carsten Rave (dpa) Barbara Thielen von RTL. Geld könne mit keinem „fiktionalen Film erwirtschaftet“ werden. Das ist sicher etwas eng gedacht. Denn wie die Zeitungen immer auch Redaktionelles für das Anzeigenumfeld produzieren, braucht ein Fernsehsender wie RTL natürlich außer einer Imageauffrischung auch Quotenbringer für das Werbeumfeld. Dafür eignet sich ein Katastrophenfilm wie „Hindenburg“ allemal. Gut 10 Mio. Euro Produktionskosten gönne sich RTL allerdings auch nur etwa alle zwei Jahre. Für eine ebenfalls produzierte Doku zum Thema hat der Sender den Zuschauern ebenfalls ein Leckerli hingehalten: Ein Interview mit dem letzten Überlebenden des Absturzes der „Hindenburg“ im Mai 1937.

Für den Spielfilm selbst haben Produzent Sascha Schwingel und Regisseur Philipp Kadelbach eine Shoppingtour durch die B-Movie-Genres unternommen. Ein bisschen Katastrophe hier, etwas Agenten- und Verschwörungsthriller dort, von Nazi-Glamour und Agatha Christie zu schweigen. Und die „Hindenburg“ als „alles überstrahlender Star“. Dazu eine kurzweilige und professionelle Inszenierung ohne Tiefe. Handlung und ein paar Schauspieler gehören natürlich ebenfalls dazu.

Vier attraktive Damen (im kleinen Schwarzen; mit High-Heels) sorgten im Gewandhaus für Aufmerksamkeit. Das „Hingucker“-Quartett Salut Salon vermengte Klassik, Folklore, Chanson und Kammermusik. „Wer sich prächtig amüsieren will, ist beim geistvollen Humor der Entertainerinnen gut aufgehoben“, schreibt Birgit Hendrich. Allerdings, neben der „hinreißenden Bühnenshow“ verstehen die Vier anscheinend auch viel von Musik. Am Ende „enthemmter Jubel“ des Publikums.

Mathias Wöbking organisiert in „ausgepresst“ derweil einen Diktator-Tourismus und vermittelt nebenbei den 82-jährigen Hosni Mubarak in die nächste leitende Stelle. Frankreich hat beste Aussichten, seit Kaiser Bokassas und „Baby Doc“ Duvaliers Aufenthalte. Saudi-Arabien hätte ebenfalls einiges zu bieten. Tunesien-Ben-Ali ist ohnehin schon dort. Aber „auch Deutschland ist“ - noch - „im Rennen.“ Vox plane eine Spezialausgabe der „Auswanderer“. RTL eine Big Brother-Fortsetzung. Hat schon bei Aristide, Mladic und Imelda Marcos angefragt. Wöbking mit schöner Schlusspointe: „Der Sieger darf ein ostdeutsches Bundesland tyrannisieren.“

In der Galerie Archiv Massiv im Spinnereigelände werden Fotografien von Wednesday Farris gezeigt. “Kühl und doch erhaben“ inszenierte Objekte, die – in klassischem schwarz/weiß fotografiert – zu berückend-entrückten Abstraktionen werden. In den alltäglichen Gegenständen, die jedes einzelne für eine Geschichte stehen, „schlafe jenes Lied“, das auf das Eichendorffsche Zauberwort „warte.“ Dennoch sei, meint Jürgen Kleindienst, nichts in den Fotos „vordergründig ästhetisiert“, vielmehr bergen die Objekte geheimnisvolle Metaphern, die über die Gewissheit des Gegenstands hinausweisen.

Von einer aufsehenerregenden Erstaufführung eines Musicals an der Dresdner Staatsoperette berichtet Boris Michael Gruhl: Stephen Sondheims „Passion“. Dessen Vorlagen sind ein Roman von Tarchetti und der nach ihm entstandene Film von Ettore Scola. Eine Dreiecksgeschichte aus dem Jahr 1862. Junger Offizier wird versetzt, muss seine Geliebte verlassen und wird von der todkranken Tosca verführt. Alle drei sind tragische Figuren auf dem Weg ins Unglück. Eine vordergründig rührselige, doch knallharte, abgründige Geschichte in doppelbödiger Musik. Gruhl erstaunt: „Das alles in einem Musical.“ Die „gefährlich-schöne“ Musik erst „macht diesen unaufhaltsamen Fluss des schönen Unglücks möglich.“ Regisseur Holger Hauer inszeniert ein Kammerspiel mit Gegenwartsbezug. Gruhl vermisst etwas Schroffheit und schärfere „Militanz der Schnitte“, um „der Gefahr schleichender Ermüdung“ zu entgehen.

Im Fotomuseum Mölkau wird in der 6. Folge aus der Reihe „Ästhetik der Lüste“ erotische Fotografie ausgestellt. Von anonymen Fotografien der zugeknöpften Viktorianischen Epoche bis ins Heute hinein dokumentiere die Schau auch den Wandel des Schönheitsbegriffs „von üppig und rund zu schlank und rank.“ lvz redakteurin Christine Hochsteins Favoriten sind allerdings von Hermann Försterling 2006 arrangierte und fotografierte Blüten, die „weibliche Intimzonen suggerieren wollen.“ Hier entstehe das erotische Moment „allein aus der Fantasie des Betrachters. Das war und ist das Geheimnis der Lust.“

Ganz neue Wege der Verteilung der schwindenden Mittel für die Kultur in Leipzig hat der Stadtrat eingeschlagen, lvz redakteur Mark Daniel hat den ersten Feldversuch beobachtet. Beim Überlebens-Training nach Vorbild des Dschungelcamps unter dem Titel „Der Zwang heißt 'Spar' – mobbt mich hier raus“ sind etliche der Big Player der Leipziger Kultur im Leipziger Zoo eingeschlossen. Wer als Letzter übrigbleibt, wird Zookönig und erhält die Gelder aus dem Fördertopf. Latenight-Talker und DJ Ralph D. macht als einziger freiwillig mit und scheint nur dabei zu sein, um den anwesenden Damen (Euro-Scene-W. Und F/Stop-Kristin D.) an die Wäsche zu gehen. Maler Michael F.-A. gerät sofort mit Sebastian H. vom Central-T. in Streit, wird später als erster rausgewählt, weil er unzulässigerweise ein Pferd zum Zebra angemalt hätte. Tragischer Irrtum, dennoch bleibt's dabei. Riccardo C. droht mehrere Male mit Rücktritt, bis er sich in den ständigen Ankündigungen komplett verheddert und tatsächlich irrtümlich geht. Freie-Szene-Falk E. erkämpft sich einen 5%-Vertrag für seine Klientel, der aber hinter seinem Rücken an die Erdmännchen verfüttert wird. Der OBM intrigiert gegen den arglos im Haifischbecken schwimmenden Michael F. , Kristin D. verlässt beleidigt, nach kurzem Erotikintermezzo mit Ralph D., das Camp. Sebastian H. inzeniert im Pongoland Penthesilea, Ann-Elisabeth W. wird von Thorsten W. und Falk E. Gemobbt. Alles läuft auf das Finale zu. Michael F. wird neuer Zoochef und Falk E. heult sich zu guter Letzt endgültig doch noch aus dem Zoo. Moderator Peter D. verkündet den Sieger: Ralph D., der aber mit den 3 Mio Euro nichts anzufangen weiß. Auf Facebook Freundschaftsanfragen von S.H., A.-E. W., Th.W. Und R.C. An Falk E.s Facebookprofil. Nach dem überwältigenden Erfolg des Formats erhält Leipzig Fernsehen die Fernsehrechte für das kommende Jahr. Die 5 Mio. Leipziger Zuschauer können ihre Streichhölzer wieder aus den Augen nehmen.

In einem Interview mit Thomas Mayer gibt Michael Faber zu, dass die mangelnden Reaktionen der Stadt auf Tod und Beisetzungen von Günter Grabbert und auch Joachim Herz ein Versäumnis darstellen. Allerdings sieht Faber die größere Verantwortung beim Centraltheater, das ein so langjähriges Ensemblemitglied „hätte würdigen müssen.“ Weiter zitiert Mayer Faber mit den Worten, den Entzug der Zuständigkeit für die Eigenbetriebe Theater durch OBM Jung „akzeptiert“ er nicht, weil sie „die Entwicklung der Kultur in unserer Stadt beeinträchtigt.“ Ansonsten pocht der von manchen süffisant schon als „Volkshochschuldezernent“ bezeichnete Faber darauf, dass er neben der Zuständigkeit für die freien Trägern und Vereine schließlich auch Aufsichtsratsvorsitzender des Zoos sei, ihm das Marktamt unterstehe, die VHS, die Städtischen Bibliotheken, die Museen und der Thomanerchor. „Ich leide nicht an Langeweile.“ Zum Denkmalsstreit merkt Faber an, dass „in Dresden und anderswo man bereits über unsere Streitereien lacht.“

Mittwoch, 2. Februar 2011

lvz kultur vom 2.2.11: Das kranke System erzeugt kranke Bürger

Die echten Nachrichten aus Ägypten erscheinen in der lvz kultur. Nina Mays Mail-Interview mit dem Comiczeichner Magdy el-Shafee ist nicht das einzige Beispiel. Das, was Roland Herold heute im leitartikel zum besten gibt, ist demgegenüber von Angst geprägte Sicherheitsphilosophie, Journalismus nach dem Bachelorstudiengang.
Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfus „scheint Recht zu behalten“ mit seiner Prophezeiung, eine Demokratisierung in Ägypten „wird schneller gehen, als manche Zweifler meinen.“ Mahfus hat Recht behalten. Herold, der ihm wohl kaum glaubte, warnt vorsorglich. Seine distanzierte „Scheidewegs“-Sophisterei gegen „die Islamisten“übersieht, dass die Erfahrungen, die die Ägypter gerade machen, ein Leben lang vorhalten werden und auch den Kindern und Enkeln vermittelt werden. Wir können etwas ändern. Das, was auch sehr viele Leipziger 1989 aus Not und Entschiedenheit heraus sich gesagt haben. Herold klügelt derweil, „dass „die Ägypter spätestens dann den Westen benötigen, wenn ihre Euphorie den Alltagsproblemen gewichen ist.“ Wen benötigten die Leipziger und alle anderen Ostler, als die Euphorie der Revolution den Alltagsproblemen gewichen ist? Den Westen?

In einem weiteren, spannenden Artikel berichtet Roland Mischke aus Kairo.Über die Plünderer, die wohl von Mubaraks Regime bewusst freigelassen wurden, um den Bewohnern und Protestierern Angst zu machen, eine Krawallstimmung zu erzeugen. Doch dass die Bewohner Plünderer festnehmen und Plündergut wieder einsammelten, hat Mubarak nicht vorhergesehen. Das Sozialverhalten der Menschen in Kairo, von dem derzeit berichtet wird, ist so unglaublich und überwältigend, dass sogar Rousseau seine Gesellschaftsfeindlichkeit aufgeben würde.
In einem Gespräch mit der langjährigen Direktorin des Ägyptischen Museums, Wafaa el-Sadik, geht Mischke sogar dem Phänomen des Plünderns auf den Grund, sieht die Beweggründe, die Armut, die Würdelosigkeit der Menschen. Solche Artikel wird es in einem Jahr nicht mehr geben. Mischke fasst zusammen: „Das kranke System erzeugt kranke Bürger.“
Der Kustos des Ägyptischen Museums in Leipzig, Dietrich Raue, sagt: „Die Ägypter nehmen ihr Land wieder in die Hand, das ihnen das System weggenommen hat.“ Und: „Islamischer Fundamentalismus kann sich durchaus dazu entwickeln. Aber zu glauben, dass man diese Entwicklung mit der Aufrechterhaltung eines autoritären Regimes stoppen kann, ist falsch. Da passiert genau das Gegenteil.“

Kopfschütteln über die Doppelmoral der Amerikaner in der Glosse „ausgepresst“ bei Nina May. Sexualität, Alkohol? Kennt unsere Jugend nicht. May: Realitätsverleugnung. Und: Der Bote ist der Böse. Zeitungen. Medien. Das Internet.

An Daniel Rodes Spruch: „give me all I can get“, in Neonschrift installiert in der Galerie ASPN, hängt Meinhard Michael eine ganze Untersuchung der Vieldeutigkeit von Rodes Satz. Aufgeschnappt an einer fastfoodtheke mitten in Deutschland, kann der Satz viele Facetten zwischen (Neu-)Gier, Genussmaximierung und Lässigkeit bedeuten. Oder auch: „Ein Ich stellt sich in die Verhältnisse,“ dass sogar Michael meint: „Überstrapazieren sollte man diese Interpretation nicht.“ Fehldeutungen bei der Übertragung erhalten zusätzliche, verborgene Bedeutungen. Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied, aus dem Deutschen ins Französische, dann ins Japanische, und rückübertragen ins Deutsche, schafft verstörende und betörende neue poetische Texte. „Verstehen ist Glücksache, manchmal muss die Ahnung reichen.“ Michael vermutet, die Zuschauer ziehen den meisten Nutzen daraus, „wenn sie das Gesehene so übertragen, dass sie nichts verstehen müssen. als Abstraktion.“ Bis 19.2 in der Baumwollspinnerei.

Theresa Wiedemann hat an Olaf Schubert Puppenspiel-Auftritt in der naTo manches auszusetzen. Als Schwachstelle des Abends entpuppt sich, dass Sachubert die einzelnen Nummern zwischen den Hördialogen „schlicht und einfach zu wenig vorbereitet zu haben scheint“. „Das Absurde liegt ihm besser als das kabarettistische Tagesgeschäft“. Absurd ist auch die Pointe im neuen Hörstück, in dem nach der Festnahme eines Top-Terroristen auf einem Polizeirevier festgestellt wird, dass die richtigen Formblätter für dessen Festnahme fehlen, und man daraufhin notgedrungen “ein Auge zudrückt“ und ihn freilässt.

Die Galerie Emanuel Post zeigt in Zusammenarbeit mit dem Luru-Kino eine Ausstellung und Filme Miron Zownirs. Steffen Georgi fasziniert am meisten, dass Zownir eine Biografie über „den unbekannten Soldaten des deutschen Films“, den Film-Schauspieler Bruno Schleinstein fertigte, in den 30er Jahren „die“ Randexistenz par excellence. Der als Sohn einer Prostituierten 23 Jahre in Heimen und Besserungsanstalten der Nazis als „Geisteskranker“ lebte und als Versuchskaninchen missbraucht wurde. Das Porträt „eines Kaputten“, der mit allen Rissen und klaffenden Wunden in der Seele bewundernswert dagegen ankämpft unterzugehen.

Verleger Mark Lehmstedt meint in seinem Interview mit Thomas Mayer, dass Leipzig außer bei „Gewandhausorchester und Thomanerchor“ eher in der oberen Regionalliga spiele. „Schlimm“ seinen „nur Illusionen, wie die, Leipzig sei eine Metropole“. Stattdessen solle es „Kunst und Kultur für die Menschen, die hier leben und arbeiten“ machen und Besonderheiten wie die Musikalische Komödie mehr schätzen. Zur Debatte über das sogenannte Regietheater uind speziell Sebastian Hartmann meint Lehmstedt, „Der Regisseur“ sei „der Diener des Textes und seines Dichters. Wer das nicht kann, sollte einen anderen Beruf ergreifen.“ Ein Freiheits- und Einheitsdenkmal brauche Leipzig nicht, stattdessen den 9. Oktober als Nationalfeiertag.

Dienstag, 1. Februar 2011

lvz kultur vom 1.2.11: Babysuite und Hamletmaschine. Die Prinzen. Tukur. Theater Pack.

Die Prinzen feiern Geburtstag. Den 20sten. Die Band - Ein Wendekind. Im Interview mit Mark Daniel, zu dem sich alle sieben gemeinsam vor dem Mikro zusammenfinden, hat die Geschichte der Prinzen allerdings so gut wie garnichts mit der politischen Revolution vor ihrer Geburt zu tun, weder der von unten in der DDR, noch der von oben im schließlich vereinten Deutschland.

Das Interview besteht aus Stichworten, die jeweils einem der Prinzen zugelost werden. Die Kurzstatements zu den Begriffen geben dabei eher wenig her. Die Stichworte:
Ostalgie, Kritiker, 20 Jahre Prinzen, Graue/wenig Haare, Die Prinzen im Jahr 2031, Guido Westerwelle, Verlogenheit des Showgewerbes, Sarrazin, Annette Humpe, Unvergessliches Erlebnis, Fehler, Leipzig, Lieblings-Prinzensong und warum, Herzinfarkt, Erfolgsdruck, Alter, Umgang mit Bandkrisen, Ruhm, Kapitalismus, Groupies, Thomaner, Karriereende, Tourstress, Solo- und Nebenprojekte, Politisches Engagement, Eitelkeit, Anspruch, Eigene Helden.
Die 28 Stichworte sagen zuallererst etwas darüber aus, was Daniel mit den Prinzen verbindet. Und das klingt eher nach Vergangenheit. Die Prinzen lieben ihre Vergangenheit, ein wenig auch ihre Gegenwart und hoffen auf die Zukunft. Lebendig und leidenschaftlich werden manche beim Namen Annette Humpe („Ewig dankbar“), bei Leipzig („An Leipzig kommt nichts ran“), bei AC/DC (da hat's mich mit 13 gepackt“) und beim Verdrängen des Alters („so viel zu tun, dass ich nicht drüber nachdenken kann“) – aber auch bei Sarrazin (verantwortungslos“), dem sie sich verweigern möchten. Der Rest ist wenig interessant.

Ulrich Tukur und Rhythmus Boys haben im Gewandhaus einen Abend voller Klamauk gegeben. Besonders „Tausendsassa“ Tukur wird für lvz redakteur Thomas Düll zur „Lichtgestalt“. Kabarettistische Einlagen, „kulturell wertvolle“ Gitarrensoli und „krampfartige Lachanfälle“ beim Publikum dienen einem Querschnitt durch die Tanzmusik Europas der 20er bis 40er Jahre. Frontmann Tukurs „mitreißende Vielseitigkeit“ wird über den Klee gelobt, die Rhythmus Boys dürfen sich ihr Geld verdienen. Voll war das Konzert aber nicht.

Peter Korfmacher schreibt in „ausgepresst“ über das Ende des Humors. Der tritt bei Mario Barth zum Beispiel ein, wenn ein älterer Witz, den er sich als Wortmarke hat schützen lassen, auf ein T-Shirt gebannt wird (kostet 1.700 Euro). Zum Beispiel. Selbst als Muster auf Tapeten oder „Schnellkochtöpfe“ darf „Nichts reimt sich auf Uschi“ noch gedruckt werden. Und das, obwohl es lange vor Barth ganze Programme unter dem Titel gab. Und Barth den Witz schlicht geklaut hat. Selbst der Urheber, sofern man ihm habhaft würde, ob Kalkofe, Wischmeyer oder Welke, zahlen müssen künftig alle. Achtung! Kein Barth mit Witz!

„Clavigo“ vom Theater Pack hat vor 60 Zuschauern in der naTo Premiere gefeiert. Unter dem Titel „Die Leiden der jungen Marie“ schreibt Jennifer Hochhaus einen sichtlich beeindruckten Premierenbericht. Clavigo ist ein Antiheld, einer, der selbst Fehler begeht, der die Liebe zugunsten der Karriere verrät. Bei Goethe. Schletter reduziert auf das Wesentliche – und gewinnt. Bei ihm geht es um die Frauen. „Genauer gesagt: um eine Frau und ihre Entscheidung für oder gegen das Vertrauen in die Liebe.“ Marie, Clavigos Geliebte, wird zur Hauptperson. Ihr Kummer, ihr Abwägen zwischen Vernunft und Gefühl, ihr Liebesglück, ihr hysterisches Flehen - alle Facetten macht sich Ina Isringhaus „zu Eigen“, werden ihr abgenommen. „Tragisch, schmerzhaft und wunderbar herzzerreißend.“

Das Mendelssohn Kammerorchester hat unter dem lockenden Titel „Wunder und Kinder“ eines ihrer Konzerte für Neugierige gehalten – und Kinder eingeladen. Zum Zuhören, zum Toben, zum Mitspielen. Nicht aus Effekthascherei. Die Mendelssohns glauben daran. Und das ist dem Konzert und der Kritik von Anja Jaskowski anzumerken. Ob beim israelischen Komponisten André Hajdu („Konzert für 10 kleine Pianisten“), bei Erich Wolfgang Korngold („Babysuite“) oder Mendelssohn-Bartholdy („Trompeten-Ouvertüre“) - eines der großen Plus dieses Orchesters ist, dass sie ihre Konzerte mindestens in Ansätzen inszenieren. Und dadurch einem jungen Publikum beginnen, die Scheu und Langeweile zu nehmen vor dem antiquierten, feierlich-steifen Erscheinungsbild eines typischen Sinfonieorchesters. Dirigent Aurélien Bello habe zudem alles „bestens zusammengehalten“, schreibt Jaskowski.Glückwunsch!

Steffen Georgi hält Heiner Müllers „Hamletmaschine“ für den „letzten wirklich großen deutschen Drama-Text.“ Ein Schlusspunkt, der gleichwohl neue Spielräume öffnen wollte. Müller verhandelte Utopien und deren Frontverlauf zur Geschichte; doch er wusste, dass „die Gegenwart weder Resonanzraum noch Reibungsfläche“ böte für einen solchen Text. „Ein stotterndes Stück Menschenschrott“, Hamlet, begegnet der bandagierten Ophelia. Und dann wird gesprochen. In der Inszenierung von David Perlbach im Spinnwerk entschieden zu viel. Weil die Darsteller den Text sprachtechnisch nicht tragen können, weil die Inszenierung damit überfrachtet wird, und weil „inszenatorische Einfälle rar“ seien. Dazu kommen zusätzlich eingefügte Texte, die für Georgi dramaturgisch nicht einmal Sinn machen. Ergo: „Weniger Worte konzentrierter nachlauschen, beim Verhallen im Vakuum.“