Mittwoch, 2. Februar 2011

lvz kultur vom 2.2.11: Das kranke System erzeugt kranke Bürger

Die echten Nachrichten aus Ägypten erscheinen in der lvz kultur. Nina Mays Mail-Interview mit dem Comiczeichner Magdy el-Shafee ist nicht das einzige Beispiel. Das, was Roland Herold heute im leitartikel zum besten gibt, ist demgegenüber von Angst geprägte Sicherheitsphilosophie, Journalismus nach dem Bachelorstudiengang.
Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfus „scheint Recht zu behalten“ mit seiner Prophezeiung, eine Demokratisierung in Ägypten „wird schneller gehen, als manche Zweifler meinen.“ Mahfus hat Recht behalten. Herold, der ihm wohl kaum glaubte, warnt vorsorglich. Seine distanzierte „Scheidewegs“-Sophisterei gegen „die Islamisten“übersieht, dass die Erfahrungen, die die Ägypter gerade machen, ein Leben lang vorhalten werden und auch den Kindern und Enkeln vermittelt werden. Wir können etwas ändern. Das, was auch sehr viele Leipziger 1989 aus Not und Entschiedenheit heraus sich gesagt haben. Herold klügelt derweil, „dass „die Ägypter spätestens dann den Westen benötigen, wenn ihre Euphorie den Alltagsproblemen gewichen ist.“ Wen benötigten die Leipziger und alle anderen Ostler, als die Euphorie der Revolution den Alltagsproblemen gewichen ist? Den Westen?

In einem weiteren, spannenden Artikel berichtet Roland Mischke aus Kairo.Über die Plünderer, die wohl von Mubaraks Regime bewusst freigelassen wurden, um den Bewohnern und Protestierern Angst zu machen, eine Krawallstimmung zu erzeugen. Doch dass die Bewohner Plünderer festnehmen und Plündergut wieder einsammelten, hat Mubarak nicht vorhergesehen. Das Sozialverhalten der Menschen in Kairo, von dem derzeit berichtet wird, ist so unglaublich und überwältigend, dass sogar Rousseau seine Gesellschaftsfeindlichkeit aufgeben würde.
In einem Gespräch mit der langjährigen Direktorin des Ägyptischen Museums, Wafaa el-Sadik, geht Mischke sogar dem Phänomen des Plünderns auf den Grund, sieht die Beweggründe, die Armut, die Würdelosigkeit der Menschen. Solche Artikel wird es in einem Jahr nicht mehr geben. Mischke fasst zusammen: „Das kranke System erzeugt kranke Bürger.“
Der Kustos des Ägyptischen Museums in Leipzig, Dietrich Raue, sagt: „Die Ägypter nehmen ihr Land wieder in die Hand, das ihnen das System weggenommen hat.“ Und: „Islamischer Fundamentalismus kann sich durchaus dazu entwickeln. Aber zu glauben, dass man diese Entwicklung mit der Aufrechterhaltung eines autoritären Regimes stoppen kann, ist falsch. Da passiert genau das Gegenteil.“

Kopfschütteln über die Doppelmoral der Amerikaner in der Glosse „ausgepresst“ bei Nina May. Sexualität, Alkohol? Kennt unsere Jugend nicht. May: Realitätsverleugnung. Und: Der Bote ist der Böse. Zeitungen. Medien. Das Internet.

An Daniel Rodes Spruch: „give me all I can get“, in Neonschrift installiert in der Galerie ASPN, hängt Meinhard Michael eine ganze Untersuchung der Vieldeutigkeit von Rodes Satz. Aufgeschnappt an einer fastfoodtheke mitten in Deutschland, kann der Satz viele Facetten zwischen (Neu-)Gier, Genussmaximierung und Lässigkeit bedeuten. Oder auch: „Ein Ich stellt sich in die Verhältnisse,“ dass sogar Michael meint: „Überstrapazieren sollte man diese Interpretation nicht.“ Fehldeutungen bei der Übertragung erhalten zusätzliche, verborgene Bedeutungen. Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied, aus dem Deutschen ins Französische, dann ins Japanische, und rückübertragen ins Deutsche, schafft verstörende und betörende neue poetische Texte. „Verstehen ist Glücksache, manchmal muss die Ahnung reichen.“ Michael vermutet, die Zuschauer ziehen den meisten Nutzen daraus, „wenn sie das Gesehene so übertragen, dass sie nichts verstehen müssen. als Abstraktion.“ Bis 19.2 in der Baumwollspinnerei.

Theresa Wiedemann hat an Olaf Schubert Puppenspiel-Auftritt in der naTo manches auszusetzen. Als Schwachstelle des Abends entpuppt sich, dass Sachubert die einzelnen Nummern zwischen den Hördialogen „schlicht und einfach zu wenig vorbereitet zu haben scheint“. „Das Absurde liegt ihm besser als das kabarettistische Tagesgeschäft“. Absurd ist auch die Pointe im neuen Hörstück, in dem nach der Festnahme eines Top-Terroristen auf einem Polizeirevier festgestellt wird, dass die richtigen Formblätter für dessen Festnahme fehlen, und man daraufhin notgedrungen “ein Auge zudrückt“ und ihn freilässt.

Die Galerie Emanuel Post zeigt in Zusammenarbeit mit dem Luru-Kino eine Ausstellung und Filme Miron Zownirs. Steffen Georgi fasziniert am meisten, dass Zownir eine Biografie über „den unbekannten Soldaten des deutschen Films“, den Film-Schauspieler Bruno Schleinstein fertigte, in den 30er Jahren „die“ Randexistenz par excellence. Der als Sohn einer Prostituierten 23 Jahre in Heimen und Besserungsanstalten der Nazis als „Geisteskranker“ lebte und als Versuchskaninchen missbraucht wurde. Das Porträt „eines Kaputten“, der mit allen Rissen und klaffenden Wunden in der Seele bewundernswert dagegen ankämpft unterzugehen.

Verleger Mark Lehmstedt meint in seinem Interview mit Thomas Mayer, dass Leipzig außer bei „Gewandhausorchester und Thomanerchor“ eher in der oberen Regionalliga spiele. „Schlimm“ seinen „nur Illusionen, wie die, Leipzig sei eine Metropole“. Stattdessen solle es „Kunst und Kultur für die Menschen, die hier leben und arbeiten“ machen und Besonderheiten wie die Musikalische Komödie mehr schätzen. Zur Debatte über das sogenannte Regietheater uind speziell Sebastian Hartmann meint Lehmstedt, „Der Regisseur“ sei „der Diener des Textes und seines Dichters. Wer das nicht kann, sollte einen anderen Beruf ergreifen.“ Ein Freiheits- und Einheitsdenkmal brauche Leipzig nicht, stattdessen den 9. Oktober als Nationalfeiertag.

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