Donnerstag, 9. Dezember 2010

lvz kultur vom 9.12.10: Friedensnobelpreis, Neo Rauch, Marina Frenk & Kulturräume

Die Angst der chinesischen Führung vor ihren Bürgern und die Angst vor einem Gesichtsverlust in der Weltöffentlichkeit bestimmt deren Handeln nicht erst, seit der Friedensnobelpreis an den inhaftierten Intellektuellen Liu Xiaobo vergeben wurde. Der Gegensatz aber kann kaum größer sein zwischen der Haltung Xiaobos, der als den größten Beitrag der Demokratie zum Wohl der Menschen bezeichnet, "Probleme unter Vermeidung von Gewalt und Blutvergießen zu lösen", und der Intoleranz der chinesischen Regierung gegenüber individueller Meinungsäußerung. Zu diesem Zweck, konkret, um die Teilnahme an der Nobelpreisverleihung zu verhindern, greift China vehement in die Freiheit und Rechte ihrer Bürger ein (Inhaftierung, Einschüchterung, unter Hausarrest stellen, an der Ausreise hindern u.a.). Die Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und Václav Havel formulieren laut Andreas Landwehr und Thomas Borchert: "China verletzt nicht nur die Menschenrechte seiner Bürger, sondern verhätschelt und unterstützt auch brutale Diktaturen rund um die Welt."



Der großen Neugier der Weltöffentlichkeit auf einen einflussreichen Denker und noch wenig bekannten chinesischen Inellektuellen willen, aber wohl auch dem Geschäftssinn des Bei Ling ist die Biografie über seinen über Nacht berühmt gewordenen Freund Liu Xiaobo zu verdanken, die er in nur zwei Monaten recheriert, geschrieben und hat drucken lassen. Er beschreibt ihn als "eigensinnigen und mutigen Intellektuellen", den Schuldgefühle plagten, weil er die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter überlebt hat. Er vermittelte seinerzeit zwischen Regierung und Studenten und organisierte aus Angst vor einem Blutbad den friedlichen Abzug der Studenten. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens kam auch Xiaobo in Haft, nicht zuletzt wegen eines Geständnisses auf Druck der Familie. Doch kam er bereits 1991 wieder frei, anders als viele andere Anführer der Bewegung. Auch dieses Schuldeingeständnis hat Xiaobo später als innere Schwäche bereut. Wie Andreas Landwehr schreibt, verschweigt Bei Ling aber auch in Schilderungen über Xiaobos Privatleben nicht, dass der heutige Nobelpreisträger eine "zügellose Person, schlechter Vater seines Sohnes und treuloser Ehemann seiner damaligen Frau" gewesen sei. Seine jetzige Frau, eine Künstlerin, die sich zu den politischen Aktivitäten ihres Mannes nicht äußern wollte, steht zur Zeit trotzdem unter Hausarrest und ist ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.



Nach der Kurzmeldung gestern nun der ausführliche Bericht. Magdalena Fröhlich schreibt über die Eröffnung der "Schau" dreier Bilder Neo Rauchs im Pariser Palais Beauharnais (Rauch: "dem wohl schönsten Gebäude der Bundesrepublik"), der Residenz des Deutschen Botschafters. Rauch, der den Auftrag für ein großformatiges Bild anfangs eher als Beitrag zu einer neuen Dekoration des Gebäudes verstanden hatte, ist das Aufsehen um seine Bilder (Leihgaben der Galerie eigen+art) angeblich "nicht ganz geheuer". Doch die Veranstaltung und der mediale Wirbel stehen zweifellos in toller Kosten-Nutzen-Relation. Dem Deutschen Botschafter gelingt eine große Aufmerksamkeit auf "das Bild von Deutschland im Ausland", Außenminister Guido Westerwelle, der zur Eröffnung sprach, kann sich glücklich schätzen, als Kunstfreund und vor allem mal wieder mit positiven Meldungen in die (Medien-)Öffentlichkeit zu kommen, Neo Rauch selbst, indem er - gemessen am Aufwand, den er eher als "vorweihnachtliches Intermezzo" bezeichnete - maximale Beachtung in Deutschland, aber auch in Frankreich gefunden hat, sein Galerist kann sich ebenfalls über diesen Türöffner zu einem bisher verschlossenen Kunstmarkt freuen, die Botschaftsreferentin über eine Aufwertung des Deutschlandbildes in Frankreich via Kunst, der ehemalige Direktor des Centre Pompidou und Berater des Projekts im Palais, Werner Spies, über eine gute Vorarbeit für seine kommende Kuratorentätigkeit zu einer bevorstehenden Rauch-Ausstellung in Baden-Baden, die Botschafts-Gäste natürlich, indem sie einem einmaligen Event beiwohnen durften, bei dem sie sich als Kunstkenner erweisen konnten (ließen sich zitieren mit der Aussage über die Rauch-Bilder: "eine fremde Art des scheinbar Bekannten, keinesfalls (!) jedoch eine befremdende"), und nicht zuletzt Magdalena Fröhlich für ein bildungsreisendes Vergnügen und journalistischen Arbeitsurlaub und die lvz für eine nette Story. Wie schließt Magdalena Fröhlich: "Ein Bild sagt mehr als Worte."



"Ausgepresst" beginnt mit Janina Fleischers schönem Bonmot "Nicht nur Unglück kommt selten allein, auch das Glück hat es drauf, paarweise aufzutreten" - und meint die Ehe bzw. die steigende Zahl dieser privaten Geschäftsabschlüsse. Es gehe um eine sensationelle Entwicklung von Berliner Neurowissenschaftlern, die demnächst befähigt sei, ungesagte Gedanken für Außenstehende in Texte umzuwandeln. Ihr Fazit: "Die Welt wäre ehrlicher", wenn man auf diesem Wege vom Ungesagten des Gegenüber erführe. Na wenn das mal nicht zu ebensolchen diplomatischen Verwicklungen führen wird, wie Wikileaks sie derzeit verursacht.



Nina May führte anlässlich der kommenden Premiere des Solostücks "Schlafes Schwester" in der Skala ein Interview mit dem neuen Leipziger Ensemblemitglied des Centraltheaters Marina Frenk. Rolle und Person etwas vorschnell in Zusammenhang zu bringen (hie "Derwisch voller Energie", da "stakkatohafte Antworten wie bereits auf dem Sprung"), kommt May zu dem wenig schmeichelhaften Urteil, dass "selbst wenn Marina Frenk über Persönliches spricht, klingt sie irgendwie abstrakt, als erzählte sie von einer anderen Person." Wer aber auch nur einmal die - zurückhaltend ausgedrückt - hölzerne Art der Gesprächsführung der lvz redakteurin kennt, ahnt, dass an diesem Eindruck vielleicht zwei Seiten beteiligt waren. Interessant sind die Bekenntnisse der jungen Schauspielerin, einerseits als Performerin eine größere Bedeutung zu haben denn als ausführendes Organ einer Regiearbeit, andererseits beim konsequenten Auf die Spitze-treiben des sogenannten Regietheaters, gleich gänzlich auf den Regisseur zu verzichten und stattdessen Dramaturgin und Schauspielerin mit dem Text (Robert Schneiders "Schlafes Bruder") einfach mal wegzusperren und zu sehen, was dabei herauskommt. Und dass Marina Frenk - verständlicherweise - auch weiterhin Angst davor habe, dass das nicht funktioniere.



In der Interviewreihe Mathias Wöbkings' zur Novellierung des Kulturraumgesetzes ist heute Karl-Heinz Gerstenberg (GRÜNE) aus Dresden Gesprächspartner. Gerstenberg lehnt die Novelle ab, für ihn bedeutet der Eingriff, dass künftig mit den Summen der Kulturraumgelder nach Belieben der Regierung verfahren werden könne, die Verlässlichkeit dahin sei, die zu den wichtigsten Merkmalen des Gesetzes zählte. Allerdings sieht er auch in den real erfolgenden Kürzungen eine Gefahr für Leipzigs Kultur, Ort der "Erbepflege und kulturellen Avantgarde" zu bleiben, "der Ausbau der dringend notwendigen kulturellen Bildung" bliebe sogar wohl ganz auf der Strecke. Gerstenberg sieht das Vorhaben der Landesregierung schlicht darin, "dass der Freistaat seine Landesbühnen gegen den Protest der Kulturräume von diesen mit bezahlen lassen will". Die Grünen hätten iherseits Änderungsanträge zum Haushalt eingebracht, um ohne Neuverschuldung und ohne den Schuldenabbau zu bremsen, Kürzungen der Kulturraumgelder zu vermeiden.



Einige zehntausend Unterschriften gegen die geplanten Kürzungen hat Landtagspräsident Matthias Rößler erhalten, die er umgehend an den Petitionsausschuss übergeben wolle, der diese frühestens am 6. Januar entgegennehmen könne. Leider drei Wochen zu spät, um noch Einfluss auf die Abstimmung am 15. Dezember zu nehmen.



Stefan Reisner berichtet über ein Fastfood-Konzert des Forums Zeitgenössische Musik Leipzig beim Bürger-König Burger-King. "Fast Food" war das Thema des Kompositionswettbewerbs, die Beiträge durften jeweils nicht länger als ein Popsong sein. Obwohl die Burger-Kette in den Musikwerken auch reichlich Kritik einstecken muss, scheint sich die Aufmerksamkeit auf dieses Projekt für sie trotzdem zu lohnen, ebenso wie für das FZML, das bereits mehrfach mit ungewöhnlichen Locations und Themen ihrer Konzerte aufgefallen ist. Mit Michael Flatleys "Lord of the Dance" war in der Arena Leipzig wieder ein internationales Großevent zu erleben. Stehende Ovationen für die Stepp- und Showkünstler, doch Fragen an Julia Samt, die in ihrer Kritik weder Kritisches anmerken will, noch sich überhaupt einer Wertung hingibt. Nur als Beispiel: Wenn sich die Stepp-Damenformation in Strings of Fire zunehmend entblößt, "sicher, weil das Feuer so heiß ist", endet sie: Stepptanz als Werbung für ein Unterwäschelabel. Liegt in der Ironie Distanz? Wirkte der Auftritt peinlich? Lächerlich? Abgezockt? Charmant? Kokett? Geschäftstüchtig? Es ist wie es ist? Der in der Türkei wegen Raubüberfalls und Umsturzversuch angeklagte deutsche Autor Dogan Akhanli ist zu Beginn des Gerichtsverfahrens auf freien Fuß gesetzt worden. Der Prozess wird im März 2011 fortgesetzt. Eine wertvolle Privat-Sammlung aus etwa tausend Stücken ist auf dem Weg nach Leipzig, wo sie im Bach-Archiv untersucht werden kann. Das Material dient vor allem der Forschung über die Bachsöhne Carl Philipp Emanuel, Wilhelm Friedemann und Johann Christian, darunter der Autograph der Oper "Zanaide", die im Rahmen des Bachfests 2011 erstmals seit 1763 wieder aufgeführt werden wird.

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