Samstag, 4. Dezember 2010

lvz kultur vom 4.12.10: Schirmer vs. Konwitschny, Jirgl & Porsche

Auch Kinder können die Musik Humperdincks samt ihrer "psychologischen Feinzeichnungen" verstehen. Sie machen sich keine Gedanken über die Komplexität, reagieren ganz nach dem Lustprinzip. Wie bei Wagner würde bei Humperdinck in der Musik bereits alles eins zu eins erzählt, anders als beim doppelbödigen Mozart. Peter Korfmacher sprach mit dem GMD der Oper Leipzig, Ulf Schirmer, über Humperdinck, Wagner, Hänsel & Gretel und das Regietheater. Und meint, die Regie habe die Beziehungen zwischen den Protagonisten aufzuzeigen, "auch da, wo die Musik sie gerade nicht erhellt. Ansonsten muss sie zeigen, was die Musik vorgibt." Kein Regisseur dürfe sich über die Musik erheben, auch wenn Herr Konwitschny dies meint. Das Regietheater gehe fehl, wenn sie von einer Kontrapunktik zwischen Musik und den Personen, der Handlung, den Gefühlen ausgehe. Musik und Regie haben sich an ihr Publikum zu richten, was nicht mit Populismus zu tun habe. Aber sie würden schließlich von ihm bezahlt.
Genau genommen, werden Herr Schirmer, die Opernsänger und das Orchester aber eher nur von ca. 15% vom Publikum bezahlt, so gering sind im Verhältnis die Eigeneinnahmen. Größter Geldgeber bleibt der anonyme Steuerzahler. Und was die Geldgeber unter "an ihr Publikum zu richten" verstehen, ist schwer zu sagen. Vielleicht müssen sie die Wahrheiten, die sie in der Partitur entdecken, auch mal nicht nur zur Freude des größtenteils an Traditionen orientierten Publikums freischaufeln, an das sie sich gleichwohl richten?

Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl liest in der Handelsbörse vor halbleerem Haus aus seinem jüngsten Roman "Die Stille". Ob die Fans fehlen, die schon immer ihren Autor einmal aus der Nähe sehen, erleben wollen? Aktueller Büchnerpreisträger zu sein, reichte gestern jedenfalls nicht aus. Ist Jirgl vielen Lesern zu schwierig? Sind es die Episoden aus der deutschen Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts, die viele nicht mehr lesen wollen? Schrecken die typografischen Besonderheiten seiner gedruckten Texte ab? Fehlt es ihm an medialer Aufmerksamkeit?
Janina Fleischer zumindest bedauert all jene, die nicht erschienen sind, schwärmt von "Erlebnislandschaften unter den Wortoberflächen" (klingt fatal nach "Freizeitparks", aber unkommerziell). Eine an Arno Schmidt erinnernde Interpunktion, die Rhythmus und Betonungen der Texte strukturiert, lässt schon das stille Lesen, ohne öffentlichen Vortrag, zu einem Hörerlebnis werden. Unglaubliche, niegehörte "Tiefendimensionen" würden erkennbar, wenn Jirgl "den Leib der deutschen Sprache öffne", schreibt der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Klaus Reichert. Die Vater-Sohn-Geschichte selbst scheint hinter der Sprachmächtigkeit zurückstehen zu müssen, immerhin "nimmt sie gefangen", wie Fleischer schreibt.

Der "Küchenporsche" sei derzeit in, da käme kein tiefergelegter Straßen-Porsche mehr dran, meint "ausgepresst"-Autor(in) mf. Und mit ihm/ihr die Tester des "Roten Punkts" für Industriedesign im Red Dot Design Museum Essen. Preislich eher gleich, sprächen nicht nur die geringeren Parkplatzsorgen und die an ein Maschinengewehr erinnernde sexy Bezeichnung P7340 für das Porschedesign der schicken Dunstabzugshaube. Einzige Nachteile: Tieferlegen sollte man die dann nicht, nachher passt kein Kochtopf auf das Induktionsfeld. Also bitte nicht verwechseln! Und: Darf man wirklich bei technischen Problemen am E-Herd oder Spülrohr einen Klempner zur unausgelasteten Frau ins Haus lassen, schließlich seien die fast schon im Ruch, sexueller Dienstleister zu sein. Vielleicht sollte es mann bei E-Herd, Dunstabzugshaube & Co. doch mit dem Elektriker versuchen, die stehen für derlei pornografische Fantasien bisher nicht zur Verfügung - und böten vielleicht sogar Gewähr, dass in der Küche künftig wieder Funken schlügen.

Hat Dogan Akhanli 1989 eine Wechselstube überfallen und ist (mit-)verantwortlich für den Tod des damaligen Besitzers? Oder übt die türkische Justiz Rache an einem unbequemen linken Autor, der es sich mit türkischen Behörden wegen seiner Veröffentlichungen zu den umstrittenen Morden der Türken an den Armeniern verscherzt hat? Carsten Hoffmann schreibt, dass der türkischstämmige, heute deutsche Autor, bei seiner Anfang August erfolgten Einreise in die Türkei festgenommen wurde und ab Mittwoch auf der Anklagebank sitzen wird. Die Beweise gegen ihn sollen auf einer unter Folter erpressten Aussage beruhen sowie einer vom Sohn des damals Getöteten heute bestrittenen und zurückgewiesenen angeblichen Aussage, er hätte Akhanli damals wiedererkannt. Akhanli war bereits in den Achziger Jahren inhaftiert, weil er wegen des Militärputsches von 1980 in den Untergrund gegangen war und die Regierung bekämpft hatte. Akhanlis Projekte, „für einen offenen Umgang mit historischer Gewalt und für Versöhnung“ haben dem Autor in Deutschland mehrere Preise eingetragen.
Bereits Ende November hat die türkische Justiz durch das Urteil gegen die in Berlin lebende Schriftstellerin Pinar Selek, die letztinstanzlich zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, Aufsehen erregt. Auch bei diesem Urteil wurden unter Folter erpresste Aussagen zur Grundlage genommen und lag der Verdacht auf eine Abrechnung mit einer politisch missliebigen Autorin nahe.

Die Besucherzahlen am New Yorker Broadway und am Londoner West End, den führenden Musical-Märkten der Welt, gehen zurück, in Deutschland musste jüngst das Essener Colosseum-Theater schließen. Doch die Musicalveranstalter Stage Entertainment und Mehr! Entertainment wollen weitere Musicaltheater in Hamburg errichten. SE bereits ihr viertes in Hamburg, und M!E ebenfalls ein neues. Das Musical „Sister Act“, das SE in Koproduktion mit Whoopi Goldberg produziert hat, feierte soeben seine Deutschlandpremiere. In London ist es bereits herausgekommen, New York folgt. Der Deutschland-Chef des weltgrößten Musicalveranstalters setzt mit „Sister Act“ erstmals auf eine Eigenproduktion. Die kostet zwar etliche Millionen € Entwicklungskosten (ca. 5-6 Mio € bei „Sister Act“, geschätzte 10-20 Mio € beim geplanten Beatles-Musical), spart aber die sonst fälligen 15% Lizenzkosten vom Einspielerlös. Ob die Produktion den sogenannten Break Even (Zeitpunkt, an dem die Kosten eingespielt werden) in 3 Jahren erreichen wird, ist offen. Christian Forsthoff kommen angesichts „der mit wenig Esprit und platten Witzen dahin dümpelnden Handlung“ zumindest Zweifel.

Zehn Tage vor der geplanten Abstimmung über die Novellierung des Kulturraumgesetzes beginnt die lvz eine Interview-Reihe mit Leipziger Landtagsabgeordneten, die im Ausschuss für Wissenschaft, Hochschule, Kultur und Medien sitzen und einen entscheidenden Einfluss auf das Stimmverhalten ihrer Abgeordnetenkollegen haben. Holger Mann (SPD) stimmt „Entschieden nein“. Begründung: Die Novellierung des Kulturraumgesetzes sei verfassungswidrig. Die verlässliche Basis für die Einrichtungen, die ursprünglich beabsichtigt und auch im Gesetz verankert sei, sei mit der „Kürzung durch die Hintertür“ nicht mehr gegeben. Weiter kritisiert Mann, dass die Kürzung schon zum 1.1.2011 erfolgen soll und gleichzeitig die Mehrkosten für die Dresdner Institutionen ausgleichen solle. Von den Steuermehreinnahmen seien auch die Bereiche Kultur, Soziales und Bildung ausgespart worden, dies würde hohe Folgekosten nach sich ziehen und gleichzeitig viele Sachsen Zukunftschancen rauben.

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