Samstag, 18. Dezember 2010

lvz kultur vom 18.12.10: Stuckrad-Barre und Sarrazin, Wikileaks, Kulturraumgesetz & Dario Fo

Late-Nighter Benjamin von Stuckrad-Barre, der ehemals "Spaßliteratur" schrieb und verkaufte, bis das fliegentötende Feuilleton sein Gehirn weich geknetet hatte, sitzt nun da vor seinem Gast Thilo Sarrazin und schwitzt vor Angst. An einer derart wunderbaren, mit dem Modewort authentisch kaum zu fassenden Situation, interessiert Kirsten Baukhake für die lvz einzig und allein, dass Sarrazin mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" Geld verdient hat, viel Geld. Ist das denn verwunderlich? Eine Meldung? Skandalös? Spekuliert die lvz auf die Neidwelle, die die "Musste ja mal gesagt werden"-Welle ablösen soll? Für eine Zeitung, die nicht hauptsächlich mit fetten Schlagzeilen, sondern mit Nachrichten Geld verdienen will, verdammt wenig.

Nina May behelligt den Inhaber der Domain wikileaks.de, Theodor Reppe, mit Hausfrauenfragen, horcht ihn über das Prinzip Petzen aus, will wissen, ob nicht doch wieder nur die Mächtigen..., weiß, dass Wikileaks bösen Fälschern aufgesess..., das Magazin Rolling Stones Julian Assange zum "Rockstar des Jahres" gewählt hat und die WAZ-Gruppe ebenfalls auf das Wiki-Prinzip aufspringen (und bald wie der Spiegel von der US-amerikanischen Luftwaffe durch Sperrung ihrer Website geehrt werden) will. Naja, wie so oft also. Es sind die Fragen, die jedes goldene Blatt auch stellen würde, ohne seine Leser mit irgendwelchen politischen Fragen und Kommentaren zu nerven, die rein beschäftigungsmäßig über die Zeit hinausginge, die ein Chai Latte-Tee zum Ziehen braucht.
Theodor Reppe antwortet in bester Schülersprecher-Manier, dass Politiker, die "realisieren, dass die Bürger mitbekommen können, was sie so treiben, sich deshalb in Zukunft auch eher in deren Interesse verhalten" würden und ähnlichen Schmonzes mehr. Das Idealismus-Groupie befürwortet daher "natürlich" die Freilassung des Julian Assange.

Hallo? Herr Leßmann? Hat Tschaikowski und die Nussknacker-Suite bei ihnen 1,5 Promille ihres Gehirns weich gemacht? Das Konzert des Gewandhausorchesters unter Leitung von Dmitrij Kitajenko, das sie so über den goldenen Klee loben, wenn auch nicht als "mutig", so doch als "groß", charakterisieren Sie mit: "Präzision ist ohnehin das Stichwort für dieses Große Concert" und entblöden sich nicht, wenige Zeilen später zu schreiben, dass "der russische Tanz maßlos über die Stränge schlägt" und "zum Höhepunkt" ausgerechnet den "vielstrapazierten" Blumenwalzer erklären, "bei dem die Geigen so viel zauberisch morbides Parfum in die Phrasen legen, dass man schon arg abgebrüht sein muss, um nicht davon berührt zu werden".

Der "Sparhaushalt" der Landesregierung (u.a. Novellierung des Kulturraumgesetzes), der der Dresdner Semperoper allerdings allein für 2011 mehr als 4,0 Mio € Subvenstions-Erhöhung (!) gewährt, um die anfallenden Tarifsteigerungen bezahlen zu können, beschert der Oper Leipzig 640.000 € geringere Zuschüsse, dem Schauspiel 217.000 €, dem Gewandhaus 246.000 €. Neben den direkten Einbußen fallen die Tarifsteigerungen zusätzlich ins Gewicht. Für das Centraltheater hat Verwaltungsdirektor Ballweg bereits eine Finanzierungslücke von 500.000 € prognostiziert. Das entspricht schnell mal 2-4 Neu-Produktionen. In einem Haus, das kaum "Renner" hat, die häufig angesetzt werden können, ist das nicht auszugleichen, nicht mal durch vermehrte Weihnachtsmärchen oder Konzerte.

Die Wunderwaffe der Gesprächsführung Nina May hat mit den Protagonisten der "Offenen Zweierbeziehung" von Franca Rame und Dario Fo am Theater der Jungen Welt gesprochen und fand kongeniale Partner. Witzig die Vorstellung Mays, Paare mit kriselnder Beziehung würden sich das Stück ansehen, verbunden mit ihrer Frage, wie die "Prognose für die Beziehung" wohl aussähe? Abril-Romero/Kleins Einschätzung: entweder kommt der Standesbeamte ins Spiel, weil das Paar "gemeinsam lachend" einen Neustart wagt, oder der Scheidungsrichter, weil das Paar sich für den Schlussstrich entscheidet. Ansonsten wird viel von "Beziehungsmustern", "allgemeinen Verhaltensmustern" und "Verhalten in Konfliktsituationen" geredet. Einen Geschlechterkampf sieht niemand am oder unterm Horizont, nur Frauen, "die es noch nicht so richtig drauf haben, dem eigenen Verlangen nachzugehen" und Männer, die "etwas Trauriges" an sich haben, "wenn sie partout jüngere Frauen abschleppen" müssten. Und natürlich würde auch "mit Klischees gespielt", wenn "zum Beispiel die Mutti, die zu Hause sitzt" gezeigt würde. Trotzdem: das Foto der glücklich verheirateten SchauspielerInnen (aber nicht miteinander!) ist schön!

Zum 100sten Geburtstag von Jean Genet fällt dem lvz redakteur Ulf Heise nichts anderes ein als die alte Leier des "skandalumwitterten" Schriftstellers, der an der Grenze zum Pathologischen sich selbst stilisiert ("Die Legende Genets, an der zu stricken er sich ziemlich Mühe gab, ist die eines erfolgreichen Verbrechers, eines Außenseiters, der Dieb, Strichjunge und Landstreicher gewesen war") und berühmte Fans (Georges Pompidou, Francois Mitterand, Pierre Boulez, Igor Strawinsky, Jacques Foucault, Michel Derrida) und Widersacher (Albert Camus, Francois Mauriac, Andre Gide) hatte. Warum eigentlich? Statt den zeitlichen Abstand zu nutzen, um den Provokationsgehalt seiner Werke wenigstens halbwegs den realen Fantasien seiner Zeitgenossen gegenüberzustellen, voyeurisiert, skandalisiert und übergeht der redakteur die eigentlichen Leistungen und Werke des ungewöhnlichen Schriftstellers.

Einhundertfünfzig (150!) Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen einer der weltweit wichtigsten Sammlungen surrealistischer Kunst bekommt die Stadt Berlin geschenkt. Das Unternehmerpaar Ulla und Heiner Pietzsch will ihre in 50 Jahren zusammengetragene Sammlung komplett abgeben (wenn ein "signifikanter" Teil davon öffentlich gezeigt würde), um "sicherzugehen, dass die Sammlung nicht wieder auseinandergeht und in alle Welt verteilt wird". Für diesen Fall müsste Berlin, schreibt Nada Weigelt, ein bisher nicht vorhandenes Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts schaffen. Cool ("schmunzelnd") beschreibt der Unternehmer, dass, "wenn die Schenkung den Durchbruch bringt, dass Berlin endlich das bekommt, was es schon so lange braucht, ich recht zufrieden in die Kiste steigen könnte."

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