Freitag, 22. Oktober 2010

lvz kultur vom 22.10.10: Müller-Westernhagen, Musikschule Leipzig, Thalia 21 & Dokfilme

Hallo? lvz redaktion? Alzheimer? Kurzzeitgedächtnis futsch? Der Artikel zu Marius Müller-Westerhagens Arena-Auftritt erscheint zum zweiten Mal auf der Kulturseite? Oder veröffentlicht die lvz solange, bis ich einen Artikel auch wirklich drannehme? Ich gebs zu, gestern war ich nicht so ganz da. Obwohl, wäre es nach ihm gegangen, hätte Jürgen Kleindienst den willenlosen MMW nach Ende des Konzerts am liebsten im Altersheim abgesetzt. aber er ist ja nicht der Pfleger, sondern nur der Redakteur und so dichtet er dem "dürrbeinigen 61-Jährigen" , dessen gepunktete Goldrandsonnenbrille und seidentuchdekorierter Hemdlatz mit der angenommenen Revoluzzer-Pose so viel zu tun hat wie Papst Benedikt mit den Menschen in Neu Delhis Armenviertel, eine Protestlerhaltung an, die punktgenau auf "Leute, die sich aufregen, wenn im Baumarkt die Akkuschrauber teurer werden" zielt (Bisschen lang der Satz).
Am Ende weiß Kleindienst nicht, wen er mehr bedauern soll, die Menschen im Saal mit phänomenalem Langzeitgedächtnis, die auch nach über 30 Jahren die nämlichen Songs mitträllern wollen, oder den "Johnny Walker" intonierenden Künstler mit "hochklassiger" Begleitband, der warten muss, bis seine Pflegekraft ihm den Asbach Uralt einschenkt.

Leicht bräsig wirkt wie gewohnt Musikschulleiter Frank Mitschke. Während um ihn herum "Leipzigs Kulturszene brennt", wie der Chef der Freiwilligen Feuerwehr Peter Korfmacher diagnostiziert, hat Mitschke den Schlaf der Gerechten gehalten. Es war schon seit dem Frühsommer klar, dass Dresden den Sächsischen Musikschulen den Hahn zudrehen will - von 5 Mio auf 3,5 Mio - aber das ist noch lange kein Grund, Hallo? zu rufen. Oder war sich Mitschke etwa von Anfang an sicher, dass dieses Vorhaben den Landtag nicht passieren wird? Die Klientel der Musikschülereltern wohnt schließlich warm und geborgen in den gleichen Villenvierteln wie die Mehrzahl der Abgeordneten. So ist es fast erstaunlich, dass die in Rufweite befindlichen Elternvertreter sogar Briefe an ihre Abgeordneten schreiben mussten, ehe diese einknickten. Schon ist die Rede davon, dass eher kosmetische Absenkungen in den Etats der Musikschulen erfolgen würden. Wenn überhaupt. Kein gutes Zeichen für die ländlichen Kulturstätten und keines für die Theaterszene in Leipzig und anderswo. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, Herr Tillich! Knecht Ruprecht wird den Knüppel schon noch aus dem Sack ziehen, glauben Sie nur...

Interessant in der derzeitigen Spardebatte ist tatsächlich, wie unterschiedlich die Theater- und Kulturchefs mit den drohenden Folterwerkzeugen umgehen. Herr Oldag in Gera-Altenburg steckt wie Halle mit einer geschätzten Million Euro in der Kreide. Dort werden als erste Tänzer des Balletts gehen, und der Leiter wird gegen eine willigere ausgetauscht. Die Geraer Ballett-Tage stehen ohnehin als erste zur Disposition. Es ist so deutsch. So feige. Als erstes die kleinste Sparte zurechtstutzen. In Halle ist es das Kinder- und Jugendtheater. Am "Fünfspartenhaus" Gera gibts das halt nicht. Da ist das fünfte Rad am Wagen das Ballett.

In Halle läuft sich der Widerstand langsam warm. Inszeniert wird er von Shootingstar Dirk Laucke. Der Titel ist schon geboren: Thalia 21. Jetzt braucht Frau Hahn nur noch auf einen Baum zu klettern, und schon wird es kein Wasserwerfer mehr wagen, die Theaterräume durchzukärchern, "nettoyer au kärcher" sagte 2007 der damalige Chef der Putzkolonne Paris 21 dazu, Nicholas Sarkozy. Ob dabei allerdings Lauckes Slogan von der "Re-Zonalisierung Halles" dienlich ist, bleibt abzuwarten. Immerhin ist die Petition des Theaters an die Kulturministerin Birgitta Wolff schon so erfolgreich, dass diese selbst sie bereits unterzeichnet hat. Das nennt man in der Politbranche sicher hart am Wind segeln, Frau Wolff? Landratten vermuten, dass sie den Gegner einfach ins Leere laufen lassen, nicht?

Trotz der im Protest zu Höchstform auflaufenden Kulturbetriebe taucht heute in der lvz tatsächlich sogar Kunst auf. Im Rahmen der Dokfilmwoche läuft der amerikanische Film "Germany Reunified - The Other Side of the Wall". Eine späte Reminiszens auf die Wende, ganz persönlich diesmal. Untypisch und dennoch ostalgisch geht es laut Antonia Rassow um ein DDR-amerikanisches Paar, das wenige Tage vor der Maueröffnung rübergeht, und zwar gleich über den Atlantik. Während sie, Gabriele, in der Folge ganz zufrieden ist, hadert er, Mark, allerdings mit dem Schicksal. Er wäre im Nachhinein doch gerne in der DDR geblieben. Schließlich konnte er jederzeit wieder ausreisen. Der Film, der zu gleichen Teilen aus West- wie Ostperspektive hätte gedreht werden sollen, ist unter der Hand zum Ostfilm geworden. Der Westen habe sich in den 20 Jahren einfach nicht verändert. Ganz so langweilig war der Osten also nicht.

Schließlich berichtet Norbert Wehrstedt noch über drei Filme des Dokfilmfestivals. Der erste, "Goodnight Nobody" von Jacqueline Zünd (CH), handelt von Schlaflosen. Ein Film "wie von Edward Hopper gemalt". Der zweite Film, "Vodka Factory" von Jerzy Sladkowski (PL), besitze nicht die ausgeprägte "Bildkultur" wie der von Zünd, beobachte "vielmehr das Leben wie es ist". Ein merkwürdiges Verständnis von Dokumentarfilmkunst. Ein draufhalten aufs Leben? Und der Zuschauer weiß nicht, "was nun inszeniert, was spontan hervor gebrochen" sei. "So ist Dokfilm eben heute", befindet Oberverallgemeinerer Wehrstedt. In der epischen Breite von "Dreaming Films" von Eric Pauwels (B) ist der Kritiker wohl vollends müde geworden. Seine Bemächtigungsstrategie hat trotzdem nicht gelitten, immerhin vermag er forsch zu formulieren, wie sich angesichts des Bildexerzitiums "der Zuschauer fühlt": "Wie die Spinne im Netz." Klingt bedrohlich.

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