Donnerstag, 10. März 2011

lvz kultur vom 10.3.11: Ich beschließe, also bin ich. Heimkinder. Leandros. Kunze.

Die Ungleichbehandlung in der Entschädigungsfrage für Heimkinder, die zwischen ehemaligen West- und Ostkindern gemacht wird, ist ein Skandal. Ob die Summen zwischen 2000 und 5000 Euro, die für Traumabehandlungen, Therapien und einiges andere gezahlt werden sollen, sofern die Landesparlamente und der Bundestag den Zahlungen grundsätzlich überhaupt zustimmen, in der Höhe richtig sind, ist nicht entscheidend. Es war ein Kuhhandel, das hat die Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung West, Antje Vollmer, bestätigt. In Zeiten, „in denen um 5 Euro bei Hartz IV gestritten werde“, und in Relation zu den Entschädigungen von ehemaligen Zwangsarbeitern des Nazisystems, die bis 7500 Euro erhielten, sei das „zur Zeit Menschenmögliche“ erreicht worden. In Irland sind nach vergleichbaren Berichten über Misshandlungen etwa 64.000 Euro an die einzelnen ehemaligen Kinder gezahlt worden.

Der eigentliche Skandal ist aber, dass die Heime Ost garnicht zur Debatte standen. Und dass in allen Berichten der großen überregionalen Tageszeitungen oder anderer Medien wenn überhaupt, dies nur am Rande erwähnt wurde. Von dem Grund dafür ganz zu schweigen. Niemand hat dieser beschämenden Prozedur, dass nur Heimaufenthalte bis 1975 von Westkindern durch den Fonds entschädigt werden, überhaupt in Frage gestellt.
Umso wichtiger ist nun, dass Andreas Debski in der lvz dieses Frage anlässlich des Erscheinens des Buches „Erziehung hinter Gittern“ von Nicole Glocke thematisiert. Antworten kann er auch keine geben. Auch nicht, warum selbst nach erschütterten Äußerungen der Ministerinnen Schröder und Leutheusser-Schnarrenberger im Anschluss an den Besuch des ehemals geschlossenen Jugendwerkhofes in Torgau das Thema Heimerziehung und Jugendwerkhöfe Ost gesellschaftlich keine Diskussion wert sind. Auch Debski kann nur Fassungslosigkeit über die wiederholte Demütigung, die in dieser Prozedur steckt, durchscheinen lassen.

Warum das so ist, bleibt unklar. Ist es nur die Tatsache, dass den Ostschicksalen keine entsprechende Lobby zur Durchsetzung ihrer Anliegen verhilft? Ist es im Westen die Kirche, die mit ihrer Scham über sexuelle Missbräuche in den von ihnen betriebenen Heimen eine stärkere Rolle bei der Durchsetzung von Forderungen spielt? Oder ist es auch so, wie in Antje Vollmers Worten mitschwingt, dass mit den Problemen von Unterprivilegierten ähnlich wie den von kriminell gewordenen, heute vielleicht generell mit Unterschichtlern und deren Problemen, zudem mit Ostbiografie, einfach 'kein Staat' zu machen ist? Diese Menschen ohnehin kaum relevantes Wählerpotential darstellen? Weil ihnen der Glaube an Gerechtigkeit längst abhanden gekommen ist? Dass angeblich Schwererziehbare von damals auch nach ihrer jahrelangen, vielfältigen Stigmatisierung auch heute noch und wieder unappetitlich sind? Dass unserer Gesellschaft, in der nur die ökonomisch Potenten, und die sie umschwirrende Korona von Nutznießern noch von Interesse sind, diese Menschen genauso fern bleiben wie zum Beispiel Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa zu Tausenden verrecken?
„Der Mensch hat keine Moral“ wirft in Büchners „Woyzeck“ der bräsige Hauptmann dem geschundenen, ausgebeuteten, krank werdenden Woyzeck vor, und ist selbst derjenige, dem Moral in beinahe sämtlichen Facetten fehlt. Er hat nur die Position, zu definieren, welche Menschen moralfrei seien.
Dass die lvz überhaupt und nicht zum ersten Mal dabei ist, das Thema „ehemalige Heimkinder Ost“ weiter auf die Tagesordnung zu setzen, ist ihr hoch anzurechnen.

Weitere Themen heute in lvz kultur:

Janina Fleischer schreibt über den Auftritt der Vicky Leandros im Gewandhaus und konstatiert, dass sie gut ist. Dass am Ende auch das Publikum, selbst gegen andere Erwartungen, die an den „Schlagerstar“ gestellt wurden, dies so gesehen und die Sängerin gefeiert hat. Und beinahe rührend Fleischers Satz, dass „neben den singenden Schauspielern, Moderatoren, und Supersternchen, die Nacht für Nacht am Unterhaltungshimmel verglühen, eine singende Sängerin ja ein seltener werdendes Ereignis“ sei. Fleischer schließt ihren Beitrag mit: „'Danke!' ruft jemand in die kurze Stille vor dem allerletzten Jubel.“

Insa van den Berg führt ein Interview mit Heinz Rudolf Kunze, der am 19.3. in Haus Auensee auftreten wird. Und blamiert sich bis auf die Knochen. Hier ist die Kehrseite der anscheinend verrohten Gesellschaft zu erleben, eine Generation, der es insbesondere um Bekenntnisse, um Rechthaben und die allzu simple Vordergründigkeit einer angenommenen Haltung geht. Einem Mann, der 30 Jahre im Showgeschäft steht, der eine Ehrlichkeit an den Tag legt, Songzeilen wie „Ich will nicht in den Himmel/Ich will nur ins Fernsehen/Dafür mach ich mich nackig/Bis unter die Knochen...“ verfasst und singt, vorhalten will, dass er angeblich nicht mehr genügend Sozialkritik in seinen Liedern thematisiert und dass er bei Carmen Nebel auftrete. Der Kunze aber die absoluten basics erklären muss, wie denn das Verhältnis eines Songwriters zu einer angenommenen Ich-Figur in seinen Liedern ist. Wo augenscheinlich Hopfen und Malz verloren ist, das ironische Verhältnis des Künstlers selbst zu einer solchen Ich-Figur zu empfinden, wo er tatsächlich „ehrlich“ ist und wo er sich davon abhebt. Wo das Bewusstsein eines Bekenntnisses die moralingeschwängerte Empörung über den Künstler, wie könne er denn nur..., so viel spielerischer, ehrlicher, komischer, nuancierter übersteigt, dass man sich fragen darf, wer spricht eigentlich mit einer solchen lvz redakteurin über ihr Interview? Oder ist hier alles eins und die Zeilen sind nun mal geschrieben?

Interessante Fragen stellen sich auch zu dem „unaufgeregten“ Bürgerforum zum geplanten Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig, über das Thomas Mayer berichtet. Überrascht waren scheinbar alle über die Abwesenheit der Kritiker, obwohl doch beinahe 99% der lvz-TED Anrufer und der Leserbriefschreiber sich gegen ein solches Denkmal ausgesprochen haben. Die Unfähigkeit, sich einer Diskussion auszusetzen, andere anzuhören, Argumente zählen zu lassen, steigt und steigt. Entscheider sind ja heute gefragt, nicht Erbsenzähler, Schwätzer oder sonstige überkandidelten intellektuellen „Doktores“. Wo unsere Chefs schon selbstherrlich genug sind, niemanden ohne Not neben sich zu dulden, da ist das gefahrlose Besserwissen 'im sicheren Hort', ohne Gegenüber, das antworten kann, natürlich dem eigenen Ego schmeichelnder.
Schade nur, dass OBM Jung meint, auf der anderen Seite den Mister Unantastbar mimen zu müssen, „Meine Auftrag ist es nun, das Denkmal durchzusetzen, weil es politischer Beschluss ist“. Die Stadt Leipzig tut einiges, diese Entscheidung zu moderieren, wie es ja heute gängig zu werden scheint. Doch mit dem hübsch bürokratischen Wort „ergebnisoffen“ kann man diese Formen der Moderation längst nicht immer bezeichnen. Aufmerksam sollte man vielleicht auch in der Hinsicht werden, wenn Herr Jung von der vor ihm stehenden, „spannenden, aber auch schwierigen Aufgabe“ schwadroniert und herumschleimt, „ich kann die Leute verstehen, die da sagen: Da steht ein verrosteter Würfel, an dem Kränze niedergelegt werden. Genau so ein Denkmal brauchen wir nicht.“ In dem Satz steckt so viel Ressentiment gegen moderne Kunst, wenn sie sich erdreistet, abstrakt zu sein, dass man Jung mit der impliziten Forderung nach einem auf den ersten Blick 'verständlichen Denkmal' nur eine gehobene Form des Populismus zubilligen kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen