Donnerstag, 18. November 2010

lvz kultur vom 18.11.10: Stasispitzel, Stanislaw Tillich, Grossmann, Biller & Chailly

"Die schärfsten Kritiker der Elche/ waren früher selber welche", schrieb Robert Gernhard und hat schon oft Recht behalten. Die lvz macht heute auf mit einem Artikel über die Spitzeltätigkeit des Historikers Michael Richter, seit 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung und Verfasser des Standardwerkes "Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90". Richter sagt selbst, er habe nach seiner 1981 erfolgten Ausreise in den Westen seine 2-jährige IM-Tätigkeit eingestellt. In den Akten sind nicht nur sehr eingehende und perfide Denunziationen zu lesen, die Stasi selbst war es auch, die seine Ausreise einfädelte, um Richter in der Auslandsspionage einzusetzen. Ob man Richter, der in späteren Publikationen seine IM-Tätigkeit bewusst falsch darstellte, glauben muss, oder ob er noch eine Zeitlang ein Doppelspiel getrieben hat, ist offen. Im Westen jedenfalls ist er nach seiner Übersiedlung am CDU-nahen Konrad-Adenauer-Institut tätig geworden, in seiner späteren Karriere wurde er sehr von der CDU protegiert. In zwei Artikeln über diesen Fall, die die lvz heute veröffentlicht, bleibt manches dunkel. So wird der heutige Landtagspräsident Rößler zwar mit einem Satz zitiert, er habe seinerzeit "erhebliche Vorbehalte wegen der Vergangenheit Richters gehabt" ihn im Hannah-Arendt-Institut einzustellen und der sächsische Stasi-Akten-Beauftragte Beleites sagte, "wenn ein Institut wie das HAIT einen solchen Fall unter der Decke hält, ist es diskreditiert". Mehr Informationen in der lvz? Fehlanzeige. Erst in der Welt-online ist zu erfahren, dass alle damaligen Verantwortlichen bis hin zur Landesregierung über Richters Vergangenheit informiert waren. Doch Richter habe sich als Opfer des DDR-Systems dargestellt und man glaubte ihm. Auch ein Bericht von 1991 aus der Gauck-Behörde, dass von Richter keine belastenden Aussagen als IM vorlägen, hat ihm geholfen. Ein Bericht, der der Behörde heute mehr als "peinlich" ist. In der Welt online ist auch zu lesen, wie sehr sich CDU und Michael Richter gegenseitig halfen und dass "sich alle Beteiligten darauf einigten, über diese Episode aus den Zeiten der Diktatur den Mantel des Schweigens zu legen" und dass der Stasi-Akten-Aufklärer Beleites, der im Beirat des HAIT war, bewusst in Unkenntnis gelassen wurde. Ein Treppenwitz scheint es zu sein, dass nun ausgerechnet durch Recherchen des Altstalinisten und gut mit damaligen MfS-Mitarbeitern vernetzten Horst Schneider die Wahrheit an die Öffentlichkeit kam. Schneider hatte sich offenbar über falsch dargestellte Passagen über den Herbst 1989 in Richters Standardwerk empört, die auch Horst Köhler in einer Festrede zur 20-Jahr-Feier der Maueröffnung in Leipzig kolportierte, wodurch die gefälschten Darstellungen erst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. All diese Merkwürdigkeiten haben eine damals wie heute sehr gut informierte Person wie Stanislaw Tillich nicht davon abgehalten, zu fordern, jede sächsische Schule solle "wenigstens ein Exemplar von Richters Werk in ihre Bibliothek stellen".
Dass Ministerpräsident Tillich jemals ein ausgewiesener Kritiker der Elche gewesen sei, kann man bekanntlich nicht behaupten. Er hat schließlich selbst Stasi-Kontakt zugeben müssen und es geschafft, die Diskussion darüber unter die Decke zu kehren. Die lvz tut das ihre dazu, diese Decke nicht zu lüften.

Die Abschiedstournee von Mick Hucknall und seiner Band Simply Red, dem "Missing Link zwischen europäischer Poptradition und tiefschwarzem Soul", endete augenscheinlich rührend. "This is the end!"ruft Hucknall seinen Zuhörern zum Abschied zu, lvz redakteur Lars Schmidt endet seinen Text: "Gottlob, er lügt." Denn die Zusammenarbeit der Musiker geht bruchlos weiter - nur unter anderem Namen (lvz vom 10.11.). Das Konzert war wohl großartig, das Musiker-Sextett jedenfalls "fantastisch", habe die Klangdichte einer "Bigband", die Lichtdramaturgie sei "herausragend", Hucknall selbst "von emotionaler Kraft" und "Charisma", das Ende schließlich "ohne theatralische Verabschiedung". Jubel.

Zwei neue Einspielungen des Bachschen Weihnachtsoratoriums gibt es passend zur Jahreszeit als CD zu kaufen. Zwei Mal spielt das Gewandhausorchester. Einmal mit den Thomanern unter Kantor Georg Christoph Biller, einmal mit dem Dresdner Kammerchor unter Leitung von Riccardo Chailly. Einmal traditionell, "so, wie Weihnachten klingen sollte", einmal "kompromisslos, überraschend, verstörend" und nur dem "zu erschließen", der "seine Hörgewohnheiten auszuschalten vermag". Biller gehe es um die Frohe Botschaft und Weihnachten, Chailly um Bach und jede einzelne seiner Noten. Wem Peter Korfmachers Sympathien gelten, ist unübersehbar. Bezeichnend dafür, dass Korfmacher ganz ohne seine häufige "einerseits-andererseits"-Haltung auskommt, ist, dass er den Dresdner Kammerchor schlicht als "sensationell" hervorhebt, den Thomanerchor indes nicht weiter erwähnt. Einerseits-andererseits betätigt sich nur das Chamäleon Gewandhausorchester.

In "ausgepresst" bedauert Nina May, dass die besten Zeiten des Rock'n'Roll leider vorüber seien. Beleg dafür ist die Saturn-Werbung mit Altrocker Alice Cooper als Dinosaurier und Tokio Hotel-Portier Bill Kaulitz als groupieumkreischtes Baby-Dino. All das macht für May noch keinen Sommer, "Rock'n'Roll sieht anders aus", leidet sie mit Rainald Grebe.
Erinnert sich noch wer an das "Ende Neu"-Plakat vom Beginn des Centraltheaters? Da sollte doch auch die Ära der Dinosaurier in Gestalt des Altrockers Wolfgang Engel abgelöst werden von der (Post-)Moderne des Intendanten-Babies Sebastian Hartmann. "Ach, Klaus, Rock'n'Roll sieht anders aus". Allerdings - langsam kommen sie ja in Fahrt. Der (Zauber-)Berg ruft! Beim Alpenglühen bei Luis Trenker und Thomas Mann sind sie also bereits angekommen.

Uwe Tellkamps neues Werk "Die Schwebebahn" ist eine Eloge an die Vergangenheit, schreibt Thomas Gärtner. Sehr persönlich führe Tellkamp den Leser durch wichtige Orte und Begebenheiten im Dresden seiner Kindheit, Jugend. Schließlich sei "Dresden ein langer Blick zurück, Gegenwart nur die Wasseroberfläche der Vergangenheit, die steigt und steigt." Für Thomas Gärtner nicht nur Quelle der Freude. Gegenwart scheint nur in Form der Sätze und Wörter zu existieren, mit den "altmeisterlichen Satzperioden und überladenen Attributketten", dem "wuchernden Wildwuchs", der versehen ist mit "schönen Lesefrüchten", die das Buch - immerhin - vor dem Wegwerfen schützen. Leider schreibt Gärtner nicht, welche Funktion die Vergangenheit für Tellkamp hat, in welcher Form dem Leser das Wasser steigt und steigt - vielleicht sogar bis zum Hals. Schade.

Janina Fleischer schreibt über einen Abend mit dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, David Grossmann im Alten Rathaus, bei dem Eva Matthes aus seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" liest und Stephan Detjen, Chefredakteur des DLF, mit dem Preisträger spricht. Über Israel, die Palästinenser, den Konflikt und den Alltag. Zum Alltag, besser, zur Realität, gehört auch der Tod. Vor der Nachricht über den Tod ihres Sohnes Ofer flieht die Hauptfigur des Romans, Ora. So, wie es der Autor ebenfalls tun wollte. Auch Grossmanns Sohn ist, während seines Militärdienstes, im israelisch-palästinensischen Konflikt gestorben. Grossmann ("Ich fürchte, ich werde das Buch nicht retten können") habe sein Buch fertigschreiben können, nachdem sein Schriftstellerkollege Amos Oz ihm antwortete: "Das Buch wird dich retten". So hat das Buch therapeutische Wirkung gehabt, aber es erzählt auch "mit feinfühligem Humor und sprachlicher Wucht" vom Überleben. Von der Wirklichkeit. Und von der Hoffnung auf Versöhnung.

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