Samstag, 20. November 2010

lvz kultur vom 20.11.10: Tolstoi, Katja Ebstein & die Zaubershow des Stefan Billig

Ist die Zeit gekommen für eine Neuentdeckung des rigorosen Moralisten und Gesellschaftskritikers Lew Tolstoi? Weit über 50 Jahre nach seinem Erscheinen (!) veröffentlicht der Aufbau-Verlag, im Blick den 100. Todestag von Lew Tolstoi, unter dem Titel "Entlasse mich aus deinem Herzen" Aufzeichnungen des russischen Pianisten, Komponisten und Tolstoi-Vertrauten Alexander Goldenweiser, neu ins Deutsche übersetzt. Es geht um Tolstois Streit mit seiner Frau, Vorwürfe und Kränkungen, seinen Tod, die Konflikte um das Erbe. In ihrem Bericht gibt Janina Fleischer ein gutes Beispiel dafür ab, wie das Interesse an einem radikalen und unbestritten genialen Romancier heute zu erwecken ist: Durch Klatsch und Tratsch. Denn dass Goldenweisers Aufzeichnungen - Fleischer verschweigt übrigens den Namen des Übersetzers - durch seine Verehrung für Tolstoi stark gefärbt und von Unparteilichkeit weit entfernt sind, ist ihr klar. "Wer mit Tolstoi war, der war gegen die Tolstaja", schreibt Fleischer. Und versucht, wenigstens als kritische Leserin der biografische Züge besitzenden "Kreutzersonate" von Tolstoi und der literarischen Antwort der Tolstaja ("Eine Frage der Schuld"), die Fronten abzustecken. Ob auf diesem Umweg ein Interesse für den radikalen Denker, Kritiker der Macht und Gottsucher Tolstoi zu wecken ist, bleibt fraglich.
In einem Interview von Wolfgang Jung mit Tolstois Ururenkel Wladimir Tolstoi vermutet dieser, dass Tolstoi heute für jede Macht ein Ärgernis darstellen würde. "Auch im modernen Amerika wäre er eine Art Staatsfeind. Denn politische Korrektheit war ihm völlig fremd."

Durch den Abschluss eines Haustarifvertrages bis 2016 haben die Mitglieder der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle den Erhalt des Thalia Theaters ermöglicht. Die solidarische Aktion bedeutet Lohnverzicht und Verzicht auf Lohnsteigerungen bei gleichzeitig befristetem Schutz vor Kündigung. Damit haben sich die vereinigten Mitarbeiter deutlich gegen eine Schließung des Thalia Theaters im Handstreich ausgesprochen, wie sie sich Oberbürgermeisterin Szabados und Rolf Stiska, Geschäftsführer der TOO Halle, vorgenommen hatten, um die übrigen Sparten vorerst unbehelligt lassen zu können.

Nach dem Vergleich der zwei Einspielungen des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach beschäftigt Peter Korfmacher nun der Vergleich zweier Konzerte von Beethoven-Klavierkonzerten mit dem Gewandhausorchester. Die portugiesische Pianistin Maria Joao Pires wie auch Hélène Grimaud bevorzugen eine moderne Spielweise, die eine "poetisch und ohne jeden pianistischen Effekt", die andere "forsch bis brutal". Die Dirigenten stellten in beiden Fällen "Bannerträger der historischen Aufführungspraxis" dar. Trevor Pinnock begleitete Pires' "atemberaubend schönes Klavierspiel" doch "etwas hemdsärmelig", Roger Norrington Grimauds auftrumpfendem Spiel im Fünften KK Beethovens mit "zurückhaltenden Pastellfarben". Als Partner von Pires zieht Korfmacher wiederum John Eliot Gardiner Pinnock vor, der zwar "schöne Farben", aber "wenig orchestrale Details" aus dem Spiel der Solistin abzuleiten vermochte.


Bernd Locker war sichtlich beeindruckt von der neuen Zaubershow „Illusia“ im Krystallpalast Varieté. Dass allein mittels Zaubereien ein abendfüllendes Programm von zwei Stunden gefüllt werden könne, ohne sich zu erschöpfen, hat er nicht geahnt. Die „flotte Inszenierung“ Stefan Warmuths verbindet unterschiedlichste Spielarten der Zauberei. „Kleine Geschichten entstehen, verbinden sich zu einem magischen Bilderbogen.“ Na gut, der Satz klingt gut und sagt wenig und auch die Bezeichnungen „klassische Manipulationen“, „Mentalmagie“ und „Großillusionen“ werden erst in der näheren Beschreibung lebendig. Aber alles in allem summieren sie sich „zu einer unterhaltsamen Zaubershow“, für die blocker am liebsten den Titel prägen möchte: „Potter live“.

In ihrem Interview mit Katja Ebstein spielt Peter Korfmacher des Deutschen liebstes Spiel: in Schubladen stecken. Interessiert hat ihn der ehemalige Schlagerstar, das Programm „Na und? Wir leben noch“ klingt für ihn „defätistisch“, ernsthaft resignativ, das Programm passe für ihn leider in keine Schublade, also muss er sich von Ebstein erklären lassen, in welche. Irgendwo zwischen Kabarett, Konzert und Lyrik möchte pk eine Entscheidung haben. Er wüsste nicht, ob eher Musik oder Sprache wichtiger sei in ihrem Programm, weiß aber genau, dass Brecht schon lange tot sei, und was der folglich in dem Programm aus vielen Lebenden suche uswusf. Ebstein redet derweil von „ihren Kumpels aus der Zeit der Friedensbewegung“, dass Udo Lindenberg ein „Lyriker“ sei, deutsche Schlager bessere Texte hätten als französische Chansons und sie selbst bereits 1971 als Trendsetter das erste deutsche Öko-Lied gesungen habe: „Diese Welt“. Sie schließt mit der kühnen Behauptung: „Ich bin heute nicht manipulierbar, und war es damals auch nicht“. Ach ja, s ie tritt heute um 20 Uhr in der Michaeliskirche auf. Ein Hoch auf die neue deutsche Unübersichtlichkeit.

Stefan Billig ist in der CDU. Stefan Billig ist kulturpolitischer Sprecher der CDU. Und Stefan Billig hat endlich nicht mehr nur reden wollen, sondern seine gesammelten Ergüsse auch noch zu Papier bringen müssen. Wäre Stefan Billig Ökonom, könnte man ja wenigstens Witze mit seinem Namen machen. Als Arzt, der er ist, und eben kein Ökonom, wie gesagt, traut er sich weit vor auf fremdes Terrain. Hätte er mehr Ahnung von seinem Gegenstand, müsste man Stefan Billig allerdings wegen Verleumdung oder Ehrabschneidung verklagen. Nicht die lvz, gott bewahre, sondern die l-iz hat etwas ausführlicher über den jüngsten Vorstoß der CDU im Stadtrat berichtet, unter anderem mit Billigs Begründung für eine Strukturreform: „Gerade die Oper als größter Ausgabeposten steht in der aktuellen Etatsituation unter akutem Rechtfertigungsdruck. Die Wirtschaftlichkeit der Häuser allgemein muss schnell und merklich verbessert werden, wenn die künstlerische Substanz bewahrt und weiter entwickelt werden soll.“ Billig verwechselt nicht nur die Höhe der Zuschüsse, des Ausgabenpostens, mit Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit des Hauses allgemein, sondern erdreistet sich unter der Hand, Rechtfertigungsdruck aufzubauen ohne jedes Argument, dass da Missmanagement getrieben würde. Oder hat da die Aufsicht der Häuser, der Oper speziell, versagt? Ist Höhe allein ein Kriterium? Ein negatives zumal? Wer weiß, dass die Theater insbesondere aus Personalkosten bestehen, muss gleichzeitig sagen, welche Kunst man mit wieviel Personal schaffen kann oder soll. Leider gibt es von Seiten der CDU, man betrachte derzeit die unsäglich fachfremde Debatte in Dresden, Hamburg und vielen anderen Städten, keine Äußerung dazu, außer: Stellenabbau. Die gesellschaftspolitische Revolution der CDU, die Vision einer hemmungslos durchkapitalisierten Gesellschaft, die Menschen, Institutionen, Einrichtungen, Körperschaften allein aufgrund ihrer ökonomischen Werte und Unwerte berechnen und beurteilen möchte, ist eine negative Utopie. Angeblich möchte sie die „Substanz bewahren“, dabei zerstört sie diese.
Zum konkreten Fall: In Leipzig möchte Billig ein Stiftungsmodell für die Museen und ein GmbH-Modell für die Theater (Oper Leipzig, Centraltheater, Theater der Jungen Welt, evt. Ballett; aber nicht das Gewandhaus Leipzig!) einführen und zwar schon in acht Monaten, ab August 2011. Kann man diesen (Hobby-)Politiker im Leipziger Stadtrat eigentlich ernstnehmen? Muss man wohl. Siehe Landtag in Dresden, Senat in Hamburg etcpp. Billig möchte ein Geschäftsführermodell an der Spitze, also keinen verantwortlichen Künstler. Ein solcher soll den kaufmännischen Geschäftsführer allerdings beraten, alle drei Jahre ein neuer! Die Spartenleitungen unterhalb der Geschäftsführung bezeichnet Billig etikettenschwindlerisch als Intendanten. Das sind sie beileibe nicht, schließlich buhlen sie mit ihren hauseigenen Intendantenkonkurrenten um die Verteilung der Gelder und sind auch keine Herren im eigenen Haus. Schon dieses Modell ist unfruchtbar. Halle/Saale hat sich 2008 eben diese juristische Konstruktion gegeben. Die dortige Geschäftsführung (Rolf Stiska) hat als erstes wesentliche Versprechungen, die zu Beginn der Zusammenlegung gemacht wurden, ignoriert, über den Haufen geworfen, indem er bei erstbester Gelegenheit das Kinder- und Jugendtheater als kleinste und scheinbar am wenigsten von einer Lobby unterstützte Theater schließen wollte. Abgesehen davon, dass Stiska seine Haufaufgaben (Stellenreduzierung, allerdings nicht im künstlerischen Bereich) einfach nicht gemacht hat, dadurch ein Defizit vorprogrammiert und sehenden Auges (man darf vermuten, gewollt) die Schließung des kleinstes Theaters unter perfidem rhetorischen Ausrutscher (eines von zwei Schauspielhäuser wollte er schließen) betrieben hat. Seine Glaubwürdigkeit ist damit hinüber. Niemand wird einem Geschäftsführer einer Theater GmbH künftig abnehmen, dass er bzw. der Aufsichtsrat unparteiisch und nur nach entsprechender Argumentation gravierende Entscheidungen fällt. Es sind immer die haus- oder stadtinternen Machtverhältnisse oder Vorlieben, die entscheiden. Aber das weiß man alles längst vorher. Wie ein kaufmännischer Geschäftsführer eigentlich Richtlinien vorgeben oder Fragen der Kunst abschließend beurteilen soll, ist ohnehin unvorstellbar.
Das, was die CDU in Person von Stefan Billig vorhat, ist eine gewollte Schädigung der Kunst, eine Beschädigung eines wesentlichen Elements der Gesellschaft, einer von der Politik nur schwer kontrollierbaren Einrichtung. Und genau darum geht es scheinbar in diesem wie in vielen anderen Fällen der Beschneidung gesellschaftlich wichtiger Einrichtungen: Die Durchökonomisierung sämtlicher Bereiche der Gesellschaft soll öffentliche Leistungen zu privat zu erwerbenden Leistungen machen, ob Kultur, Bildung, Gesundheit, Wohnen usw. Alles, was ein Staat seinen Bewohnern, sich selbst, zur Verfügung stellt, wird der Bürger nicht mehr teuer privat erwerben. Das ist der CDU ein Dorn im Auge. Nicht die im Vergleich lächerlichen Zuschüsse für Kultur, Soziales, Bildung etc. Man vergleiche die mit den Subventionen an die größten agrarwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland und Europa, an die Subventionen und die Prostituierung der Städte an Großbetriebe, an Banken, an steuerlich absetzbare Verlustabschreibungen und Gewinn-/Verlustrechnungen von Betrieben usw. Die Ausgaben, über die geredet wird, sind lächerlich im Vergleich. Aber es geht ja auch um das Prinzip. Man will diese großteils freiwilligen Leistungen loswerden.Nicht die „unfreiwilligen“ ändern.Dass wie im sächsischen Kulturraumgesetz auch die gesetzlichen Leistungen hinterrücks gekappt werden, gehört zu dieser Strategie. Hoffentlich ist die Unrechtmäßigkeit des Vorhabens, das Professor Ossenbühl der Novellierung bestätigt hat, noch ein Hebel oder Argument und geht nicht in einer puren Erpressung durch das Land Sachsen unter.

Vielleicht sollte Stefan Billig in der Zaubershow des Krystallpalast Varieté auftreten. Wie lasse ich ruckzuck einzweidrei Theater aus der einen Hand (der öffentlichen) verschwinden und tlasse sie in der anderen (der die dem Kapitalmarkt zugehört) wieder erscheinen. Aber Billigs Kunststückchen erinnern eher an das Schrumpfen von erbeuteten Köpfen, das manche alten Stämme mit eroberten Feinden gerne zelebriert haben. Im Moment ist die CDU eine Partei, die Schrumpfköpfe liebt. Im einen wie im anderen Sinne.

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