Dienstag, 9. November 2010

lvz kultur vom 9.11.10: d'Albert, Kehlmann, Tapetenwerk & ein neuer Kulturdezernent

Eine packende Opernpremiere in Görlitz ist Hauptaufmacher der Dienstagskultur. Boris Michael Gruhl schreibt einen ebenso packenden Bericht der Premiere "Tiefland" von Eugene d'Albert, als sei sie ein Filmereignis. Mindestens aber ist sie großes Gefühl plus schneeweißer Gletscher plus Himmelblau. So kitschig das klingt, so gegenwärtig inszeniert Klaus Arauner die Geschichte über knallharte Firmenmanager, Arbeitskräfte mit der Sehnsucht nach einem kleinen Glück und verzweifelten Frauen zwischen allen Stühlen. Reinheit der Seele und Verderbtheit des Geldes sind die konstruierten Gegensätze, aber nicht die zwischen gestern und heute. Natürlich gibt es kein Entkommen aus dem Tiefland in die Reinheit. Doch dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, stimmt halt nicht. Das ist einfach zu evangelisch gedacht plus katholischem Schuldgefühl. Dass der Prozess der Loslösung scheitern wird, ist kein gültiges Argument. Es geht nicht um Ergebnisse. Das Leben ist keine Schule.

Auch am Theater Döbeln ist gutes Theater zu sehen. "Die Vermessung der Welt" nach Daniel Kehlmann. Aber was heißt schon gut. Das Gute wird gleich drei Nummern besser gemacht, so klingt jedenfalls die Besprechung von René Weinhold und Henriette Wemme. Der fanatische Theoretiker Gauß und der feinsinnige, abenteuerlustige Humboldt stellen aufgeklärte Freigeister dar, ohne die eine moderne Staatsform wie unsere Demokratie niemals existieren würde. Mit allen individuellen Abgründen, als "intelligente Humoreske" aufgeführt, bei Kehlmann wie bei Regisseur Lutz Hillmann.

Die Ausstellung eines Kunst- und Forschungsprojekts mit Namen "Zerreißprobe" findet derzeit im Tapetenwerk in der Lütznerstraße statt. Werke von 14 Künstlern sind zu sehen. Hendrik Schäfer schreibt, das Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst sei zugleich eines von Einheit und Trennung. Soll heißen: Es gebe keine reine Dokumentation, sprich: Wissenschaft, denn allein die getroffene Auswahl belege schon eine an der Fiktion, sprich: Kunst, orientierte Vorstellung (Jana Seehusen). Auch in Andrea Pichls Rauminstallation wird die Grenze von Kunst (hier: als Utopie gedachte Bauhausarchitektur) und Wissenschaft/Technik (hier: Das Scheitern der Plattenbauarchitektur) fließend und doch ändert sich der Aggregatzustand.

Nina May verwechselt in der Randspalte "ausgepresst" wieder Selbstmitleid und Humor. Muss sie wirklich Neid empfinden, verbunden mit Berührungsängsten vor Landluft in Zeitschriftenformat? Konstatieren diese doch eine Realitätsflucht geradezu "biedermeierlichen Ausmaßes". Obgleich laut Spiegel Online in der Verbindung von Intellektuellem mit Rustikalem (á la Bratenrezepte) die Zukunft des Journalismus läge. Funktioniert diese Sehnsucht nach geistiger Bohéme, möchte man mit Nina May fragen, eigentlich auch umgekehrt? Kann es Entspannung in grillgeschwärzten, niemals erigierten Kopfzonen geben? Ein LETTRE-Abonnement in der Kleingartenkolonie? Oder heißt es dann nur anders und hat andere Themen?

Im jährlich stattfindenden Konzert des Sinfonieorchesters der Hochschule für Musik und Thaeter, Leitung: Ulrich Windfuhr, herrscht noch "Sommernachtstraum-Stimmung", schreibt Heike Bronn. Was die jungen Musiker als "Grundlage für gefühlvolles und brennendes Musizieren mitbringen", verstehe Windfuhr "nicht zu bündeln" und bleibe ohne jeglichen "emotionalen Gehalt".

Die Galerien Koenitz und Irrgang stellen derzeit Malerinnen aus, die zu den "Gründungsmüttern der Leipziger Schule" zählen können: Gudrun Brüne und Doris Ziegler. In realistischer Manier malt Brüne "Masken, Puppen, Totenköpfe", denen man mehr Lebendigkeit zutraut als den dargestellten Personen, bei aller "Ferne von Individualität und Liebe". Doris Ziegler malt insbesondere Leipziger Stadtbilder mal mit, mal ohne Menschen. Deren Masken entlarven, so Christine Dorothea Hölzig, den manulierten Menschen. Auch der Rest sei Kulisse, die Stille nur da, "um gebrochen zu werden".

Steffen Georgi will über den Abschluss der euro-scene, die Choreographie "Empty Moves" von Angelin Preijocaj, schreiben und unterderhand ein neues Kapitel seiner Diplomarbeit. Georgi sah den Abend als "Reduzierung auf das Grundlegende" und war fasziniert von den "schönen Ruinen des Lautmalerischen". "Empty Moves" zelebriere die "Emanzipation der Form von der Doktrin der Sinngebung", die "Schönheit der Abstraktion". Sekundenbilder entstünden, wenn "einer dem anderen für Augenblicke die Nase zuhält, den Mund öffnet, einen Finger ins Ohr steckt." Wow. "Eine Kunst, wahrhaft frei".

Damit war zu rechnen. OBM Burkhard Jung entzieht dem Kulturdezernenten die Zuständigkeit für die Eigenbetriebe der Stadt Leipzig. Dem ungeschickten, unkommunikativen und seltsam unwilligen Michael Faber wird kaum mehr übrigbleiben als der Rücktritt. Wolfram Leuze, der opportunistische, auf zeitgemäß autoritär setzende Grünen-Fraktionschef souffliert, "ein OBM kann es nicht auf Dauer hinnehmen, wenn einer der Dezernenten seinen Vorgaben öffentlich widerspricht". So? Ein OBM - so unsouverän? Schlimmer ist doch, dass es bei Faber kein Interesse, kein Konzept, kein Engagement für Leipzigs Theater-Kultur gab. Ob Jung mehr Zeit erübrigen wird, wenn die Kultur sich als ebenso renitent erweist wie sein Dezernent? Oder lässt er sie dann ebenfalls gekränkt fallen?
Zumindest herrscht jetzt nicht nur in der Oper, sondern auch in der Kulturpolitik Führungsvakuum und Chaos, verbunden mit der Selbstherrlichkeit eitler Narzissten.

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