Mittwoch, 3. November 2010

lvz kultur vom 3.11.10: euro-scene, Weltmännertag, Johanna Doderer & Günter Grass

Ein bisschen Etikettenschwindel darf schon sein. Nina May tut so, als hätte sie Alain Platels "Out of Context" bereits gesehen. Da geht es ihr wie Ann-Elisabeth Wolff, die die Choreographie des Flamen für das Jubiläumsprogramm der euro-scene ebenfalls blind gebucht hatte. "Es wird schon gutgehen, in unserem 20. Jahr", dachte die Festivalleiterin. Es ist gutgegangen. Der Abend war überwältigend, faszinierend die radikale Körpersprache der Tänzer. Begegnungen im Zeitraffer, ein permanentes Kommen und Gehen, bei der Selbstdarstellungen wie Zweisamkeiten in übergroßer Nacktheit stattfinden. Leicht, humorvoll. Gedanken bleiben ausgeschaltet, die Körpermitte, alles, was Anziehung bedeuten kann, auf sämtliche Extremitäten ausgedehnt. So muss Liebe sein.
Die Choreographie bezeichnet Alain Platel übrigens als "Geschenk" an Pina Bausch. "Wir dürfen nicht aufhören, über sie zu reden", habe er auf der Pressekonferenz gesagt. Dennoch, Zeit, auch über Platel zu reden. Nina May spricht von seiner Körpersprache, die aus "gemein als hässlich charakterisierten Bewegungen wie Zuckungen und Krämpfen zusammengesetzt" sei. Dabei erzählen sie Geschichten ohne Ende, von Augenblicken, Gefühlen, von Aufeinandertreffen. Menschen kommen, entkleiden sich. Treffen aufeinander. Es gibt keine Wertung, keinen Abschied, keinen Tod. Es gibt nur das Wiederankleiden und Verschwinden in der Gegenwart.

In der Glosse "ausgepresst" bedauert Janina Fleischer den Mann, der es zugelassen hat, dass es heute einen Weltmännertag gibt. Nachdem die Grundfrage geklärt ist, wann ein Mann ein Mann sei (wenn er auf dem Rasen eine gute Figur macht), bleibt noch etwas Zeit zum Mitleid. Zum Aufruf via lvz, die Männer "nicht länger in Problemzonen wie Eckkneipen, Chefetagen und Fitnessstudios abzuschieben". Sie sollten "mit offenen Armen aufgenommen" werden - Herzlich willkommen! - in der Mitte der Gesellschaft, der Frau. Darin fühlt sich Mann ohnehin besonders wohl. Vorausgesetzt Mann besteht den Eignungstest, den Kinderwagen beulenfrei in der Küche einzuparken.

Der Erfurter Generalintendant Guy Montavon hat seine jüngste Opernentdeckung, Johanna Doderers "Der leuchtende Fluss", gleich selbst uraufgeführt. Peter Korfmacher hat die Landesgrenze zu Thüringen überschritten und kehrt im Triumphzug heim mit dem erbeuteten Haupt des Librettisten Wolfgang Hermann. Toller Plot. Musik phasenweise auf Schnittke-Niveau (Ouvertüre), die das Publikum - so Korfmacher - mit moderner Oper versöhnen könne, doch die Hoffnung trügt (2. Akt) und nährt nun allein jene auf ein baldiges Ende (3. Akt). Die Geschichte eines indianischstämmigen amerikanischen Soldaten im Pazifik, der an der US-Propaganda zerbricht, habe soziale und politische Sprengkraft. Doch Hermann findet keine Sprache für seine Figuren, seine "Trockenprosa" lähme gar die Komponistin zunehmend bis zur Inspirationslosigkeit. Auch "große Theaterbilder" des Regisseurs halten die Geschichte nicht über Wasser. Die Sänger bewältigen ihre "undankbaren Aufgaben" mit "Anstand und Würde". Am Ende tosender Applaus des Publikums "als Wechsel auf Doderers Opern-Zukunft" und den "Mut" des bis 2017 "verlängerten" Generals.

Hatte Sarkozy doch Recht, als er Angela Merkel mit dem Ausplaudern einer geplanten Rückführung Tausender von Roma aus Deutschland nach Bulgarien und Rumänien in den Rücken fiel, um seine Haut zu retten? Günter Grass jedenfalls warnt vor einer massiven Abschiebung der 8500 in Deutschland lebenden Rom, die auf dem Balkan von neuem in einen Überlebenskampf geraten würden.

Gestern begannen Haustarifverhandlungen für 500 Beschäftigte der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle. Scheitern sie, schließt das Thalia Theater zum Ende der Spielzeit. Scheitern sie nicht, schließt es voraussichtlich ein Jahr später. Im ersten Fall Erpressung. Im zweiten Fall kalkulierte Bösartigkeit. RTL stellt Kinderschänder an den Pranger. Wird Zeit, dass Menschen, die wissentlich dazu beitragen, Kindern ihre Zukunft zu rauben, gesellschaftlicher Positionen enthoben werden. Ja, Sie sind gemeint, Herr Stiska, Frau Szabados!

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