Montag, 29. November 2010

lvz kultur vom 29.11.10: Schweiz, DDR-Jugendwerkhöfe & zwei Zauberflöte

Missbrauch Schutzbefohlener kann man den Schweizer Abstimmungserfolg der SVP nennen, nach dem nun Menschen ohne schweizer Pass, die wegen "schwerer Delikte" verurteilt wurden, ausgewiesen werden sollen. Das Zynische an der Regelung ist nicht nur, dass Menschen an sich fehlbar sind, kriminelle Handlungen also aus unterschiedlichen Motiven heraus begangen werden, die nun eine doppelte Bestrafung nach sich ziehen. Ganz und gar zynisch und vollends nicht mehr begreifbar ist die Tatsache, dass der missbräuchliche Bezug von Sozialhilfe mit Delikten wie Mord, Drogenhandel und Vergewaltigung in eine Reihe gestellt wird.
Mit dieser Entscheidung haben sich nicht nur die Politiker der SVP, sondern auch deren Wähler auf eine primitive Stufe jenseits jeder Zivilisation gestellt. Denn wo man von Politikern naturgemäß Verantwortung nicht erwarten, sondern verlangen muss, gehört auch die absichtsvolle Verantwortungslosigkeit anonym bleibender Wähler, die primitivste Instinkte an die offizielle Gesetzgebung delegieren, zu einer weit drastischeren Unmenschlichkeit als jeder Sozialhilfemissbrauch sie darstellen könnte. Gerade in einem Land, das den institutionalisierten Betrug ("Schweizer Bankgeheimnis") mit stolz geschwellter Brust zur Geschäftsgrundlage einer ganzen Nation gemacht hat. Dieses Land zu betreten wird allmählich ähnlich unappetitlich wie das Italien Berlusconis.
Hoffentlich wird vor einem Internationalen Gerichtshof geklagt werden.

Einen erschreckenden, gleichzeitig faszinierenden Beitrag über die Jugendwerkhöfe der DDR und die Folgen für viele ihrer Insassen hat Robert Büssow geschrieben. Erst allmählich werden die posttraumatischen Störungen erkennbar, an denen viele ehemalige Insassen heute leiden. Dies, weil die Eltern dieser auffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen den Staatsorganen der DDR nicht die Gewähr boten, dass aus ihren Kindern staatstreue Menschen würden. Hier wurde der idealistische Ansatz einer "sozialistischen Menschenbildung" zum vollkommen asymetrisch angewendeten Terror gegenüber wehrlosen Jugendlichen. Heute geht es zwar vordergründig um Rehabilitierung und Opferrenten für die Betroffenen. Gemeint ist aber wohl die Bestätigung, dass der Makel Heimkind, das erlittene Unrecht von staatlicher Seite, heute als Unrecht auch anerkannt wird.
Über die Vorliebe autoritärer Gesellschaften gegenüber geschlossenen Erziehungsheimen muss nach solchen Berichten, die erst im Zuge der Missbrauchsfälle vor allem in westdeutschen Schulen und Heimen ans Licht kamen, auch grundsätzlich geredet werden. Das betrifft heute auch die USA mit ihren Boot-Camps für Jugendliche, die immer auch der Willensbrechung ihrer Insassen dienen.

Ja, es ist schön, dass die Stiftung "Leipzig hilft Kindern" um 45.000 € reicher geworden ist durch das Benefizkonzert im Gewandhaus (unter Teilnahme der Künstler Volodos, Chailly und Gewandhausorchester). Unappetitlich ist dieses penetrante Eigenlob in Verbindung mit Eigenwerbung, die den Spruch "Tue Gutes und rede darüber" doch reichlich strapaziert, schon. Merkwürdig, dass die lvz ihre soziale Ader vor allem zum ersten Advent aus dem Fenster hängen lässt und die sozialen Einrichtungen, denen die Stiftung das dringend benötigte Geld weitergeben wird, in der Lokalpolitik für ihre Journalisten sonst eher instrumentellen Charakter besitzen, selten politischen. Heute schreiben darüber ausführlich Peter Korfmacher und gleich zweimal Thomas Mayer (Über die Vereine/Initiativen Brückenschlag Verein, Clownsnasen, Zentrum für Drogenhilfe und soziokulturelles Zentrum Geyserhaus mit "Musik macht schlau").

Auch das bei der Eröffnung ihrer neuen Räume in der Alten Salzstraße vielgehörte Lob auf das Theatrium gehört in diese Rubrik. Wenn Theresa Rentsch schreibt, "man kann förmlich spüren, wie dringend die Kinder den Platz gebraucht haben", dann weiß man, dass die Arbeit der Großstadtkinder e.V. eine sehr wichtige Initiative ist, von denen eine Gesellschaft, die ihre Kinder wirklich wertschätzt, viele einzelne braucht. In der nächsten Debatte im Stadtrat oder dem Landtag, wenn die nächsten Sparrunden zur Jugendhilfe oder kulturellen Bildung verhandelt werden, wünschte man sich von Seiten der lvz Redakteure die Sachkenntnis und Argumente, die sie hier sichtbar längst besitzen.

Dass das Centraltheater der ästhetisch selten überzeugenden Oper Leipzig durchaus Impulse geben kann, vermerkt Peter Korfmacher in seinem Beitrag zur "Zauberflöte", die als Weihnachtsmärchen in der Inszenierung von Michael Höppner Premiere in der Gottschedstraße feierte. Korfmacher beginnt: "Das Centraltheater geht fremd." Ob das nun als Argument für den CDU-Schnellschuss einer Wiederbelebung der Kombinatslösung aus Oper und Schauspiel dient, sei dahingestellt. Dass diese "Oper von unten sozusagen" als "Einstiegsdroge" wirken könne, um Kindern die Oper schmackhaft zu machen, ist sicher nicht verkehrt. Zumindest, wenn Höppners Inszenierung laut Korfmacher "sensibel die Waage hält zwischen Alltags- und Bühnenton, zwischen Witz und Poesie." Entscheidend ist Qualität. Eine nichts weiter als routiniert auf die Bretter gewuchtete Arbeit würde Kinder wohl eher abturnen.

Noch eine zweite lobenswerte "Zauberflöte" hat Peter Korfmacher gesehen, und dies im Theater Gera, das zuletzt mehr wegen exorbitanter Schulden samt drohender Insolvenz als ebensolcher künstlerischen Leistungen im Gespräch war. Doch hier gelänge in Punkto Kunst "mehr als vielen anderen, auch weitaus größeren Häusern". Er meint insbesondere GMD Howard Arman und vor allem drei seiner Solisten, Stefan Zenkl (Papageno), Hanna-Elisabeth Müllers (Extralob für ihre Pamina) und mit Abstrichen Markus Brutscher (Tamino). Doch auch Regisseur Ansgar Weigner und sein anarchischer Witz hat bei Korfmacher Gefallen gefunden.

Thomas Voigt hat in der Arena Leipzig Dieter Nuhr gesehen und ist ganz fasziniert von dem "weit gereisten Hobbyfotografen mit pastoralem Unterton." Dass der gar nicht mainstreamige Comedian sich die Ängste und Nöte seiner Landsleute vorknöpft und schlicht befindet "Die Welt ist schön!" ist nun seinerseits sehr sympathisch, wenngleich sich der Künstler mit dieser Weltsicht eher in einer Reihe mit Geisteskranken und Volksmusikanten wähnt. Der Kunstpädagogik- und Geschichtslehrer passt damit tatsächlich nicht zu seiner übrigen Zunft, die die Lebenslust in der Regel nur insoweit an sich heran ließe, sofern sie ein neues Schulfach würde.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen