Montag, 24. Januar 2011

lvz kultur vom 24.1.11: Höhenängste und flachwurzelndes Glück. Gorch Fock. Mario Schröder. Die Flippers.

Auf Schiffen, nicht nur auf der Gorch Fock , sei "das Aufbrechen von Aggressionen unvermeidlich", meint Psychotherapeut Christian Lüdke. "Da hocken die Leute die ganze Zeit aufeinander, da kann keiner weg." Systematisches Schleifen, sexuelle Übergriffe und hin und wieder auch schon mal ein Todesfall auf diesem in Marinekreisen als "größter schwimmender Puff Deutschlands" bezeichneten Schiff ergo systemimmanent. Segelschulschiffe, Internate und Priesterseminare sind längst nicht die einzigen Orte, an denen Druck von außen Druck von innen produziert und irgendwann explodiert.
Verteidigungsminister Guttenberg ist selbst in einem solchen Kessel gefangen. Wenn die Bildzeitung einen Aufmacher mit Enthüllungen zum Thema androht, kann auch Herr Baron schon mal Stresssymptome zeigen und vom Mast fallen. Besser also, erst mal das Sündenböckchen Norbert Schatz vom Mast fallen lassen. Obwohl Guttenberg gerade einen Tag vorher gesagt hatte, die Sache in Ruhe untersuchen zu lassen. Die Politikerkaste in Berlin produziert ähnliche Aggressionsrituale wie sie auf Schiffen existieren, gegen die sich aufzulehnen nicht ganz einfach ist. Wenn der Einheizer mächtig Kohlen auf Lager hat.
In nahezu der gesamten Arbeits- und Behördenwelt wird Druck aufgebaut, der aus Angestellten und Bürgern Untergebene macht, die sich ihrerseits Ventile suchen, um Druck abzulassen. Armin Görtz könnte doch mal bei Psychotherapeut Lüdke nachfragen, warum sich zu Guttenberg so verhält, wie er sich verhält. Möglicherweise nicht allein, um den Blick von  Afghanistan weg zu lenken. Bisschen Arsch in der Hose gehört aber dazu, nicht Görtz?
Ach-tung! Haltung einnehmen! Wegtreten!

Wenn Peter Korfmacher Kritik anzumelden hat, schiebt er erstmal das jubelnde Publikum vor. Sinn für Fallhöhe? Hochnäsigkeit? Opportunismus? Journalistische Sorgfaltspflicht? Schwer zu sagen. Nach Mario Schröders zweitem Ballettabend an der Oper Leipzig steht das Publikum beinahe auf den Stühlen vor lauter Zustimmung ("Bravo-Gebrüll" und "stehender Jubel" laut kfm), doch das ist dem Maestro denn doch "eine Spur zu dick aufgetragen". Abgesehen davon, dass Korfmacher der "scheinmoderne Hit" des "deutschen Primitivisten" Carl Orff  scheinbar in den Ohren wehtut, moniert er asynchrones Tanzen, grobmotorische Gewandhausmusiker (durfte bei diesem Amikomponisten, zudem so'n Jungspund mit dem Allerweltsnamen John Adams, nie gehört, nur die dritte Garde ran?), den seltenen Einklang von Chor und Orchester, einen "konturlos wabernden" Bariton namens Johannes Beck und pauschale Schläge des Dirigenten Mathias Foremnys, der auch den Orchesterklängen "die Magie verweigere". Korfmacher lobt dagegen die "kraftvolle Ästhetik des neuen Leipziger Balletts", das "zu den schönsten Hoffnungen Anlass gebe" und die "archaische Schönheit des Solisten an der E-Geige, David Wedel. Etwas zur Komposition Adams? Außer der kleinen Bosheit "exotische Ambition" Fehlanzeige.

Auch Steffen Georgi war gezwungen, sich unter seinem Niveau zu unterhalten, "Die Flippers" auf Abschiedstournee in der Arena Leipzig haben "ihre Aufgabe letztlich mit Bravour erfüllt". Die Aufgabe war, einen Kessel Buntes ins Alltagsgrau von "Lieschen Müller" zu bringen. Das "gigantische Kirmes-Zelt voller Glückseligkeit", das die Flippers erzeugen, hat Georgi aufgewühlt. Mit dem Philosophen Cioran gesagt, wäre "Glück" ohnehin nur das "Streben nach dem Minimum". Dem Bodensatz. Die Flippers als "musikalisch und textlich absolutes Untermaß", die ihre Melodien "mit einem Mutti-klopft-Schnitzel-Beat im Dreivierteltakt unterlegen", haben ihr Publikum glücklich gemacht, jawohl.

Dem Architekten des Stuttgarter Hauptbahnhofs, Paul Bonatz, ist eine Ausstellung im Architekturmuseum in Frankfurt am Main gewidmet. Gerade dieser Bau, angelehnt an die Sultan-Hassan-Moschee in Kairo, und der Historismus und Moderne verknüpfe, wurde von der Fachwelt "wegen seiner extremen Funktionalität gepriesen." Der "zwischen Klassizismus und Moderne", sogar zur "Bauhaus-Moderne" tendierende Bonatz verkörperte also laut Thomas Maier Widersprüchliches. So wie der "ausgewiesene Nazi-Kritiker" auch, um überhaupt an Aufträge zu kommen, 20 Brücken über deutsche Autobahnen entwarf.

Ulf Heise berichtet über den jüngsten Roman Richard Wagners, "Belüge mich". Thema ist die "Aufdeckung von Scheinheiligkeit und Lügen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit in Rumänien." Eindringlich erzählt der aus dem Banat stammende Wagner und mischt in "scheinbar gängige Muster des Realismus" parabelhafte, ja, "geradezu kafkaeske Szenen", die "zum Zentralthema seiner Prosa" führen.

Im Spinnwerk hat Steffen Georgi dann doch noch eine sehenswerte Inszenierung erlebt, Brechts "Fatzer" in der Regie von Michael Wehren. Konsequent arbeite Wehren aus dem wuchernden Wust der Szenen-Entwürfe, von Brecht selbst als "unaufführbar" kategorisiert, das Dokument einer "nicht mehr in 'herkömmliche' Theaterformen komprimierbaren Wirklichkeit" heraus. Zerlegt Welt, Bühne und Publikum gleichermaßen in Bruchstücke. Die sich das Publikum selbst zusammenfügen kann. "Fragmente eines (Nicht-)Stückes zum Selberbauen." Notwendig lückenhaft. "Es ist ihm gelungen", schreibt Georgi.

Die English Drama Group hat mit Joe Ortons "Entertaining Mr. Sloane", im Deutschen als "Seid nett zu Mr. Sloane" bekannt geworden, eine Wiederentdeckung gemacht. Juliane Lochner beschreibt Stück und Inszenierung von Marie Schönherr im Haus Steinstraße als "unterhaltsam" mit "schön schmierigem Ende", lobt insbesondere Iris Cramer und fühlt sich als "Zuschauer schmunzelnd und verständnis-innig nach Hause gehen."

2 Kommentare:

  1. Guter Blog, danke für die Zusammenfassungen. John Adams ist sogar ziemlich bekannt.
    Gruß, Stefan
    PS: "wer will denn gleich nach perlen tauchen" ist ein prima Untertitel und würde so schon ausreichen

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  2. @stefan beyer: danke! auch für die info zu adams. wollte selbst reingehen, auch der musik wegen. aber zu zweit 80-120 Euro war erstmal ne hürde. vielleicht später mal.

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